Iris Moos, Trennung

 D. P.

 

Iris Moos, Trennung

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                         
Bist du sicher, daß ich dort das Land

und den Samen aller Namen finde,

während ich ertaube und erblinde?

Christine Lavant

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Freitag

 

An diesem Morgen, sie lag noch im Bett, hatte Monika Johansen, eine ehemalige Mitstudentin aus Berlin angerufen, um zu fragen, wie es ihr ginge und zu sagen, dass sie mit dem Zug, wie verabredet, morgen um 13 Uhr 18 in Köln ankommen würde, sie wolle die Ausstellung Francis Bacon und natürlich auch sie, Iris Moos, sehen. Lachen.

Iris Moos war aus dem Bett gestiegen und barfuß zuerst in das zweite Zimmer an eines der Fenster zur Straße gegangen und hatte eine Weile auf die stille schmale Straße geblickt, die im kaltfeuchten Vorfrühling dahindämmerte. Das bronzene Stollwerck-mädel war noch unbewachsen und in der Bäckerei gegenüber gab es Bewegung.

Sie hatte Johansen lange nicht gesehen, seit sie nach Köln zurückgekehrt war, das letzte Mal bei einer Veranstaltung im Literaturhaus, das sich damals in der Fasanenstraße befand, anlässlich eines Vortrags von Jean Baudrillard. In eben dieser Straße hatten Johansen und sie einen Vortrag von Margarete Mitscherlich im Jüdischen Gemeindehaus mit Einlasskontrolle, zu der Johansen aus der Besucherreihe herausgebeten worden war, besucht. Mitscherlich hatte sie beide sehr beeindruckt, sie brauche eigentlich gar nichts zu sagen, es genüge ihre Anwesenheit, hatte Moos empfunden und gesagt. Baudrillard hatte Deutsch gesprochen, man hatte ihn also bequemer Weise verstehen können. Sie hatten zwar erwartet, dass es voll werden würde, aber keine Ambitionen gehabt, sich um einen guten Platz zu bemühen, was hieße, frühzeitig am Ort zu sein. Sie hatten keinen Sitzplatz mehr bekommen und standen an der Seite, neben der geöffneten Tür, von wo aus Moos einen längeren Blick auf Baudrillard hatte werfen können, als er zum Podium lief, ein schwarzes Hemd und einen blauen langen Anorak tragend, in der Hand, die er nach unten hielt, eine Zigarette. Sie stellten sich auf ihre Zehenspitzen, um hin und wieder etwas von seinem Gesicht zu sehen. Ein narzisstisch gestörter Veranstaltungsteilnehmer, so waren sie sich einig, hatte versucht, Baudrillard zu dekonstruieren, hatte aber ihrer Meinung nach nichts Entscheidendes zu sagen gehabt und einzig hysterisch Signale verarbeitet. Beim Lesen von Baudrillard, so hatte Johansen argumentiert, gäbe es immer etwas zu lachen und Humor sei eine der wichtigsten Überlebensstrategien.

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Sie hatten sich auch intensiv mit Foucault beschäftigt und über eine Biografie Sartres gesprochen. Wenn Iris an Johansen dachte, tauchte bei ihr dennoch immer die Frage danach auf, was eigentlich in Johansens Kopf, die aus dem Osten kam, wirklich vor sich ging. Die studentische Hilfskraft, die Foucault in einem Seminar eigeführt hatte, war Johansen, sehr sympathisch gewesen. Jedoch war Moos dann diejenige, die diesen Kontakt, über das Studienende hinaus, gehalten hatte. Sie waren zuerst angehende und später diplomierte Psychologinnen. Johansen war dann allerdings zur Sozialarbeit gegangen. Etwas, das für sie nicht wirklich in Frage gekommen wäre. Eine Praxis, das war ihr Traum. Das hatte sie geschafft.

Was am heutigen Abend geschehen würde, davon ahnte sie nichts. Und wenn dieses Geschehen sie auch nicht völlig überraschen sollte, so würde sie es doch aus der Bahn werfen, die sie seit einiger Zeit wieder um den Kölner Dom zog. In Köln war sie geboren und aufgewachsen, wie man so sagte.

Sie stellte sich unter die Dusche, wusch sich die Haare, die sie dann föhnen musste, weil es noch zu kalt war, mit feuchten Haaren hinauszugehen. Sie stieg in ihre Jeans, kombinierte die Farbe Taubenblau (Strickjacke), mit der Farbe Weiß, (Bluse) und der Farbe Schwarz (Jacke, Tasche, Schuhe und Strümpfe). Sie ging, als sie fertig war, die Tür hinter sich zugezogen und abgeschlossen hatte, hinüber zum Bäcker, um am Stehtisch einen Cappuccino zu trinken. Sanfte Wärme in der Bäckerei.

 

Morje/ Guten Morgen.

 

Moos war nicht immer nach Dialekt zumute, deshalb antwortete sie heute auf Hochdeutsch. Johansen, der Berlinerin, musste hier das nötigste des Kölsch erst beigebracht werden, mit Bützen (für Küsschen) und Köbes (für Kellner) und man musste ihr verbieten, zum Karneval Fasching zu sagen oder zu denken. Im letzten Jahr hatte Iris ein Mieder getragen, das vom Trödelmarkt in Sülz stammte. Sie sammelte auch das Jahr über Süßigkeiten, die sie aus dem Fenster warf, wenn sich der Rosenmontagszug durch ihre Straße bewegte. Süßigkeiten zum Rauswerfen sammeln und immer rechtzeitig an das Einkleiden zum Karneval denken das waren so Tätigkeiten, die in Berlin und ähnlichen Städten natürlich überhaupt kein Verständnis fanden (auch wenn es in Berlin auf einmal einen Karneval gab).

Die rundliche und resolute junge Verkäuferin in der Bäckerei lächelte ihr, schon wissend, was sie bestellen würde, zu, begab sich an die Kaffeemaschine und stellte Moos nach einer Minute das Gewünschte auf den Tresen. Und mit der Hand einmal kräftig und kurz auf den Boden der Streudose schlagend, bestreute sie den Milchschaum mit Kakao. Moos dachte daran, dass diese Verkäuferin sehr früh aufstehen musste und überhaupt eine schwere und schlecht bezahlte Arbeit hatte, trug ihre Tasse vorsichtig an den Stehtisch und begann den Kaffee zu schlürfen. Sie spiegelte sich in der Fensterscheibe, sah sich wie sie da in der Straße stand, sie Iris Moos, ein weißes feuchtes Gesicht, immer noch blond gelockt und sehr schmal. Sie stand da und schaute aus ihrer Wäsche, aus ihrem Leben heraus, die Süße des Milchschaumkakaos auf der Zunge.

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Wie gut sie doch diese fünf Minuten, oder zehn genießen konnte. Zum Abschied sagte sie lächelnd, wie sie dachte:

 

Ciao, bis Morgen, wahrscheinlich…

 

Sie hatte einen Fußweg von zwölf Minuten. Sie selbst hatte die Praxisräume in der Nähe ihrer Wohnung gefunden. Auf ihrem Praxisschild, das sie, als es angebracht worden war, mit freudigem Stolz erfüllt hatte, standen ihre beiden Namen: Martin Koch und Iris Moos. Martin war der Initiator ihrer Praxis für Psychotherapie für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Moos war in ihn verliebt und hatte eine so genannte Beziehung zu ihm. Zum allerersten Mal hatten sie sich zufällig getroffen. Auf dem Roncalliplatz hatte eine Trude- Herr- Revue mit Wolfgang Niedecken und Hella von Sinnen stattgefunden. Trude Herr war 1991 in Aix- en- Provence (nicht in Köln) gestorben. Es musste eine Gedenkveranstaltung zu einem Todestag gewesen sein.

Iris hatte sich inmitten von mehreren Tausend Leuten bewegt. Sie hatte Martin um Feuer für eine Zigarette gebeten, die sie an ihre Lippen hielt, während sie sich leicht mit gesenkten Augenlidern und wunderbar zarten seidigen Augenbrauen auf ihrer wahnsinnig hellen und zarten Haut über die Flamme beugte, die ihr nach einem kurzen Klick von Martin entgegengehalten worden war. Sie hatte damit die Leidenschaft des fremden Mannes augenblicklich entfesselt und war, ohne dass dieser noch etwas sagen konnte, in der Menge untergetaucht. Sie hatte scheinbar nicht weiter an ihn gedacht, ihn zumindest aus ihrem inneren Blickfeld entfernt. Später, als er nach einer Partnerin für eine zu eröffnende Praxis suchte, war sie also wieder aufgetaucht, zu seiner großen Freude. Zu ihrer beider Überraschung. Und sie erinnerten sich, als hätten sie etwas unachtsam Verlegtes wieder gefunden.

Sie war guter Dinge, als sie die Tür der Praxis hinter sich zufallen hörte und den bestimmten Geruch wahrnahm, der die Frische ihrer kleinen Institution bezeugte. Sie setzte sich in ihrem Behandlungsraum auf einen der beiden Stühle namens Costes von Philipp Starck. Martin war noch nicht da. Moos blätterte kurz den Nachrichtenteil der Tageszeitung durch, die sie aus dem Briefkasten genommen hatte und brachte diese dann in ihren Warteraum, wo sie in einen Zeitungshalter an der Wand gesteckt wurde. Vor den Fenstern hingen weiße Baumwollstores, die so gestaltet waren, dass sie auf dem Boden aufkamen und praktisch eine Schleppe hatten. Sie zog die Stores ein wenig von den Fenstern zurück, setzte sich vor den Computer und schaltete ihn an. Sie bereitete sich auf ihre Klientin vor, die in fünfzehn Minuten kommen würde. Meistens erschien sie zu früh. Sie war eine schwierige Frau, ein schwieriges Mädchen, das aus einer Gruppe zu ihr gekommen war, die ihr nichts gebracht habe, was Moos bereits nach der ersten Sitzung verstanden hatte. Die Behandlung würde noch drei Monate dauern. Heute wollte sie, dass Xenia etwas aufschrieb, etwas schriftlich ausdrückte und ihr dann vortrug, denn Xenia war eine Schauspielerin. Und sie würde es ihr auch anrechnen, dass etwas aus dem Kopf und nicht aus dem Bauch kommen sollte. Es sollte tatsächlich über den Kopf, nicht aus dem Bauch heraus. Vielleicht würde sie denken, dass sie jetzt auch noch einen

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Schulaufsatz schreiben sollte, ein Märchen. Aber sie war sehr intelligent. Moos bereitete ein Arbeitsblatt vor mit einer Vignette, für die sie ein Bild aus ihrem Fotoarchiv benutzte, das zwei kleine Mädchen unter einem Regenschirm zeigte. Moos hatte dieses Bild von ihrer Nichte Anabela geschenkt bekommen, die es auf einem Straßenfest mit ihrer neuen von Moos geschenkten Digitalkamera aufgenommen hatte. Anabela war die Tochter ihres Bruders, der sie, Iris, seine Schwester schützte, seit sie auf der Welt war, seit ihre Mutter Edith sich das Leben genommen hatte. Er war, wie sie ebenfalls empfand, ihr schöner Bruder. Er war das männliche Schönheitsideal ihrer Kindheit. Iris war blond, blauäugig und hellhäutig, wie ihre Mutter scheinbar gewesen war, während Bernhard ein insgesamt dunkler Typ war, mit dunklen Augen und dunklen Haaren, mit einer Ähnlichkeit zu ihrem Vater. Anabela sah ebenso aus wie Bernhard. Aber das hatte sicher noch eine andere Bewandtnis, denn Anabela hatte eine portugiesische Mutter, Manuela. Für eine Psychologin, als die sie sich manchmal auch direkt bezeichnete, war es Moos auffällig, dass der Sohn (ihr Bruder), ebenso wie der Vater (ihr Vater), eine Frau aus der Fremde geheiratet hatten. Heiratete er eine Ausländerin, weil er es seinem Vater nachtat, oder heiratete er eine Ausländerin, weil seine Mutter, die ihn in den Tod verlassen hatte, als er 10 Jahre alt war, eine Ausländerin gewesen war, eine Frau, die Deutsch mit einem tschechischen Akzent sprach?

Anabela hatte begonnen, wie einst Moos, in Berlin zu studieren. Moos hatte im Moment keinen Kontakt zu ihr. Mit ihrem Bruder traf sie sich regelmäßig einmal im Monat, bei ihm, bei ihr, in einem Restaurant. Er erweckte den Anschein, eine sichere bürgerliche Existenz zu führen. Was ihr auch ein Gefühl der Sicherheit verschaffte, obwohl sie natürlich einmal das Bürgerliche bekämpft hatte. Moos konnte den Beruf ihres Bruders nicht richtig beurteilen. Manuela arbeitete jedenfalls sehr viel. Sie war Ärztin. Bernhard, so glaubte Moos, war eine Art Politiker oder besser ausgedrückt, ein Angestellter in der Politik, der bestimmte Arbeiten verrichtete, manche sagten auch, die eigentliche Arbeit. Er sprach, wie Manuela und wie seine Tochter, ebenfalls Portugiesisch. Manchmal schrieb er auch. Hin und wieder erhielt Moos eine Zeitschrift mit einem Text von ihm darin. Ein halbes Jahr lang war er beruflich in Mosambik gewesen. 1998 hatte es eine schlimme Trockenperiode gegeben.

Moos positionierte die Vignette mit den beiden Mädchen unter dem Regenschirm in der Mitte der oberen Hälfe des Blattes. Sie sollte das Blatt bewohnen. Sie sollte mit der Phantasie des Mädchens, das in ihrer Patientin steckte, in Kontakt treten. Xenia sollte zu ihrem Märchen finden, das ein Märchen für das Mädchen sein sollte, dem großes Leid zugefügt worden war. Moos hatte sich überlegt, einen Tagtraum abzufragen, nach C.G. Jung sozusagen. Was würde Xenia sagen, würde sie überhaupt etwas sagen?

 

Sie sind die einzige, die erkannt hat, dass ich mit der Gegenwart nichts anfangen kann, dass ich nicht lebe.

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Das hatte sie gesagt. Die Einzige, die etwas verstanden hatte, nein, sie wusste nicht, ob sie auch die einzige war, der sie das gesagt hatte. Aber irgendwie war es eine nachdenkliche Situation gewesen, sodass sie sich zumindest vorstellen wollte, dass es so wäre und sie war höchst motiviert und wusste sehr gut, was es bedeutete, das Gefühl zu haben, irgendwie nicht gegenwärtig zu sein.

Aus dem Fenster sah sie einen jungen Mann, eine Zeitung aus dem Papierkorb an der Bushaltestelle fischen. Er trug eine schwarze Lederjacke und Handwerkerhosen. Es war etwas, das sie öfter sah. Sie brachte diesem Gewühle im Müll kein Mitleid entgegen. Das Schlimmste, was sie einmal gesehen hatte, war eine Frau, die an einer Ampel stand, eine Menge Leute waren dort, und weggeworfene Pommes aus dem Papierkorb fischte, verschlang und Ketchup von dem viereckigen Pappteller, auf dem man die Pommes erhielt, ableckte. Moos hatte sich dermaßen geekelt, dass sie sich nicht in der Lage gefühlt hatte, der Frau Geld zu geben. Sie hatte einen jungen Mann gesehen, dem der Urin aus den Hosenbeinen floss, ohne dass er auch nur die geringste Reaktion, die geringste innere Verbindung dazu zeigte. Da gab es also kein Mitleid, sondern Ekel vor einer Krankheit, die, wie sie dachte, mit einer überbordenden Asozialität einhergehe.

 

Weil wir im Prinzip doch keine Gnade kennen.

 

Xenia kam nicht zu früh. Sie kam genau auf den Punkt, um neun Uhr. Moos holte sie von der Tür ab, sah, dass sie heute einen roten Lippenstift aufgetragen hatte, kirschrot, was noch niemals bisher vorgekommen war, berührte kurz, aber fest ihre Hand und geleitete sie in den Behandlungsraum. Martins Tür war geöffnet und er blickte auf, als sie an ihm vorbeigingen, was Moos aus dem Augenwinkel sah. Xenia war eine Frau, jünger als sie, die ein wenig den Eindruck einer, meistens fiel ihr dafür die unkorrekte Bezeichnung der alten Jungfer ein, machte. Xenia hatte sehr dünne, wahrscheinlich frisch gewaschene Haare. Und heute eben den Lippenstift. Vielleicht war diese Erscheinung doch nicht altjüngferlich, sondern eher die einer Schauspielerin von eigenwilliger, ein wenig verschrobener Schönheit. Sie sagte, noch während sie sich setzte, sie sei ihrer Idee nachgekommen, der Idee der Therapeutin, und habe vor einem Spiegel gegessen. Xenia setzte sich so, dass ihr Rücken sich ganz an die Rückenlehne schmiegte. Sie habe so einen Spiegel, vor dem sie auch ihre kleinen Rollen einstudiere oder tanze, einen großen Spiegel. Sie habe einen Tisch und einen Stuhl vor diesen Spiegel gestellt, habe sich den Tisch gedeckt und gegessen. Sie habe sich zuerst mit einer ganzen Familienpackung Eis vor den Spiegel setzen und diese verschlingen wollen und sich beim Schlingen beobachten wollen, richtig so das Geschlinge vor Augen führen wollen. Aber dann habe sie sich doch einen Teller geholt. Sie sei zurück in die Küche gegangen und habe sich ein Viertel der Packung auf den Teller gelegt, habe vier Himbeeren aus der Marktstraße hinzugetan, eine für jede Himmelsrichtung und habe den Teller auf den Tisch vor dem Spiegel gestellt und sich hingesetzt. Sie sei schweißüberströmt gewesen und habe erst einmal durchgeatmet.

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Sie habe dann die Idee umgesetzt, eine weitere Minute zu warten und sich zu beruhigen, dazu habe sie ihre Armbanduhr neben sich auf den Tisch gelegt und sich gedacht, dass hier in der Sammlung vor dem Essen vielleicht die Bedeutung eines Tischgebetes läge, sie aber nicht gläubig sei. Dann habe sie langsam, Löffel für Löffel in kleinen Portionen das Eis gegessen. Es sei nicht so einfach gewesen, zu essen und gleichzeitig in den Spiegel zu schauen. Es sei wie beim Einstudieren der Rolle gewesen. Im Prinzip erfordere die Bulimie eine ziemlich hohe Disziplin, für die Geheimhaltung und überhaupt für die Haltung eines bestimmten Gewichtes, für das Verhindern der Zunahme des Gewichtes.

Diese Disziplin sollte man irgendwie in geordnete Bahnen lenken können. Xenia hatte sich die Mühe gemacht, obwohl sie der Meinung war, dass solche Verhaltenssachen bei ihr fehl am Platze wären.

 

Bei mir geht alles viel tiefer, hatte sie gesagt, bei mir nutzt es nichts äußerlich Symptome zu behandeln.

 

Sie hatte sich mit verschiedenen Therapieformen auseinandergesetzt. Sie hatte auch einmal gesagt, sie beschäftige sich nur mit sich selbst und mit ihrer kranken Seele. Das andere, auch die Schauspielerei seien eher Nebensachen, kurze Aufenthalte in der anderen Welt, Gastspiele sozusagen. Das sei doch witzig, dass immer das aktuelle Leben ein Gastspiel sei. Sie habe sich dann auch entscheiden können, diese Eismahlzeit nicht sofort zu erbrechen.

Xenia war eine nicht sehr bekannte Schauspielerin. Sie war eine kleine Schauspielerin, so hätte das Moos‘ Großmutter ausgedrückt, die aus der Zeit stammte, in der man von kleinen Schauspielerinnen sprach. Diese Großmutter war ein Fan von Hildegard Knef und Inge Meysel, Traumata ihres Vaters, der seiner Mutter, die nichts davon ahnte und der das ferner nicht sein konnte, schmunzelnd, um deren Einstellung wissend zu berichten und zu belegen wusste, dass Inge Meysel erstens eine Kommunistin und zweitens eine Feministin gewesen sei. Und da schien sie beleidigt.

 

Ach was!

 

Moos hatte Xenia bisher in zwei Filmen gesehen, einmal sehr kurz in einem polnischen Film, an dessen Titel sie sich nicht mehr erinnern konnte, auch an den Namen des Regisseurs nicht. Sie war dort in einer Abendgesellschaft aufgetreten. Die zweite Rolle in einem Regionalkrimi, die besonders gut zu ihr gepasst hatte, ihrer Schlankheit wegen, war die eines Junkies, der von einer Mutter befragt wurde, die in Humboldt-Gremberg nach ihrem eigenen Junkie-Kind suchte. Moos wartete mit Xenia darauf, dass sie eines Tages eine größere Rolle bekam. Xenia berichtete mehrmals von Synchronarbeiten, so dass Moos vermutete, dass sie damit einen Teil ihres Lebensunterhaltes bestritt. Sie war jedenfalls eine Schauspielerin, die Moos persönlich kannte, die ihre Patientin war.

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Ich möchte, sagte Moos, dass Sie heute etwas schreiben.  

 

Sie legte ihr das vorbereitete Papier auf den Tisch. Als sie das Papier in die Hand nahm verengten sich die kirschroten Lippen mit einem winzigen Zucken.

Xenia öffnete ihre schwarze A4 Ledertasche und nahm aus einem Fach innerhalb einer Seitenabteilung ein gelbes Schreibutensil heraus, lehnte die Tasche, die sie bis dahin auf dem Schoß gehalten hatte an die Wand, erhob sich und ging zu dem Tisch in der Ecke, auf dem, wie sie wusste, Patienten malten und wie sich jetzt herausstellte auch schrieben, an dem sich ebenso Kinder mit Spielzeugen und Zeichenpapier aufhielten. Sie legte Papier und Stift auf den Tisch und lehnte sich erwartungsvoll zurück.

 

Ich möchte, dass sie sich vorstellen, wie es sein wird in Ihrem Leben, wenn Sie die Bulimie überwunden haben. Meine Vorstellung ist, dass Sie ein Märchen schreiben, sich ein kurzes Märchen darüber ausdenken.

 

Moos merkte, wie ihre Stimme eindringlicher und lauter wurde als meine sie, die andere sei schwerhörig oder schwer von Begriff.

 

Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten Zeit für ein Zukunftsmärchen. Xenia blickte skeptisch. Haben Sie die Aufgabe verstanden?  

Ja, kein Problem.

 

Sie lächelte das Foto der beiden Mädchen unter dem Regenschirm an. Sie sagte und begann zu schreiben: wenn ich meine Krankheit, die Bulimie, überwunden habe, wird meine Welt geschützt sein unter einem großen gemütlichen Regenschirm.

 

Moos sagte, sie werde für diese 15 Minuten den Raum verlassen.


Ja, das wäre gut, sagte ihre Patientin bestimmt.

 

Die Logistik erforderte nun, dass Moos sich in den Raum setzte, in dem sie ihre kleinen Sitzungen abhielten und Kaffee tranken, und wo der Kopierer und das Faxgerät standen.

Nach der vereinbarten Zeit kehrte sie, nachdem sie leicht an die Tür geklopft hatte, zu Xenia, die sie nur für sich in Gedanken so und offiziell Frau Kleineidam nannte, zurück. Selbstverständlich hielt sie eine Abstinenzregel ein und achtete auf die nötige professionelle Distanz. Sie hatte im Laufe der Zeit eine Kommunikationsfähigkeit entwickelt, die den Patienten das Gefühl geben sollte, willkommen und interessant zu sein. Es gelang nicht immer, und es gab durchaus auch Zeiten der Selbstzweifel, in denen sie dachte, dass ein Betrug vorliegen würde und dass sie eine Scheintätigkeit verrichtete. Xenia hatte den Tisch verlassen und ihr gewöhnliches Setting wiederhergestellt. Sie saß aber mit leeren Händen da und Moos entdeckte, dass sie das Papier auf den Schreibtisch


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gelegt hatte, was sie plötzlich rührte. Es war eine dreiviertel Seite gefüllt. Damit war Moos sehr zufrieden. Sie nahm das Blatt und reichte es Xenia.

 

Können Sie mir das vortragen, fragte sie.

 

Die Hauptperson des Kindheitsdramas von Xenia Kleineidam war eine fettleibige Mutter, die sich ihrer Tochter wie eine Dampfwalze zu nähern schien und so die Gefahr ihrer Auslöschung durch den Erstickungstod heraufbeschwor. Jede Lebensregung musste sie überwalzen, und Moos hatte im Laufe der Therapie, in der sie diese Geschichte nach und nach erfuhr, verschiedene Erschütterungen bei sich bemerkt, die sie aber gut hatte kontrollieren können. Anlässlich all dieser Vater-Mutter-Kind-Erzählungen, die in ihrer Arbeit zwangsläufig auftauchten, erschien auch ihre eigene Mutter, Edita, hin und wieder am Horizont ihrer Tätigkeit. Xenia hielt ihr Papier anmutig, irgendwie vertraut in der Hand und blickte ein paar Mal auf, um Moos anzuschauen. Moos konzentrierte sich auf ihre Patientin. Und was sie hörte, machte sie äußerst zufrieden. Sie hatte sich in Xenia Kleineidam nicht getäuscht. Sie hatte eine Begabung, die Moos als etwas ansehen wollte, das ihr helfen würde. Xenia befand sich in ihrer Fiktion nach der Überwindung der Dampfwalze folgerichtig in einem fernen Land, an einer freien Stelle, an einem freien Horizont, fern jeglicher Erstickungsgefahr. Sie würde nie leben, wie die so genannten Anderen, aber sie würde ganz ruhig, in Sicherheit unter dem weiten Himmel sein. Moos schluckte geübt und unbemerkt Tränen. Aber dieser würde das möglicherweise gefallen, wenn sie an ihrer Stelle weinte. Sie hatte gesagt, sie könne nicht weinen, dafür aber Kotzen. In Xenias Muttermehlwurm hatte sich ein autoritärer Charakter fortgepflanzt. Moos glaubte, das immer noch an diesem seltsamen Aussehen von Xenia erkennen zu können.

 

Die Gewohnheit, dass Moos Martin in der langen Mittagspause mit zu sich nach Hause nahm, hielt sich seit vielen Monaten. In ihrer Wohnung nahmen sie ein Essen ein, das sie sich als gemeinsames Frühstück eingerichtet hatten. Sie gerieten in das Mittagstreiben der Stadt. Menschen und Autos ergossen sich in die Straßen mit dem Rhythmus eines riesigen Herzens. Moos öffnete eilig die Tür und Martin bog sofort in die Küche ab, um die Kaffeemaschine in Gang zu setzen. Moos stellte das Geschirr auf den Tisch, dann die Speisen, Martin brachte den Kaffee. Sie setzten sich jeweils an eine der Breitseiten, einander gegenüber an den Tisch, an dem Platz für sechs Personen war. Sie erzählte von der morgigen Ankunft ihrer Freundin Monika.

 

Deleuze trug diese langen Fingernägel zur Schau, sagte Martin.

 

Moos hatte diese Fingernägel auf einem Foto in einer Zeitschrift betrachtet, nachdem sie von seinem Suizid gehört hatte. Auch hier seien Depressionen im Spiel gewesen, geformt im ungewöhnlichen Fingernagel.

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Die Frage ist, ob wir Deleuze psychiatrisch einordnen müssen,

 

belehrte Martin sie sanft, der doch aber mit diesem Thema begonnen hatte.

Er saß ihr gegenüber mit einem grauen offenen Hemd. Er gefiel ihr, sie liebte ihn. Manchmal nutzen sie die Mittagspause auch um sich miteinander aufs Bett zu legen. Auch Kaffee im Bett hatte es schon gegeben. Sie betrachtete seinen Hals, der in diesem grauen, frischen Hemdkragen steckte. Sie sah die gelbe Blüte der künstlichen Sonnenblume, die sich auf ihrem Balkon befand und die möglichst bald von natürlichen Schwestern abgelöst werden sollte.

 

Die offizielle Version, warum sich Deleuze das Leben genommen habe, ist wohl die, dass er eine schwere Lungenkrankheit hatte.

 

Ich habe heute etwas geträumt, sagte Moos.

 

Ich bin über ein weißes, tief in die Erde führendes Rohr gebeugt mit einem Durchmesser von vielleicht dreißig Zentimetern. Es ist ein Rohr aus Porzellan, von innen her leuchtend, sehr hell und klar und steril, sehr weiß. Auf dem Grund liegt ein roter Hackenschuh. Rita beugt sich mit mir über die weiße Röhre. Ich freue mich, dass sie in diesem Augenblick eine gewisse frische ausstrahlend, hinter mir steht und lächelnd das weiße Rohr hinunter auf den roten Schuh blickt. Rita ist geheilt. Man konnte sie ungewöhnlicher Weise heilen. Wir steigen zu diesem roten Schuh hinab, zuerst Rita und dann ich, zuerst auf die vorspringenden Verbindungsstücke, der im großen Rohr befestigten kleinen Röhren tretend, dann auf die Stufen einer sandigen Treppe. Das Porzellan und die roten Schuhe sind verschwunden. Die Treppe ist jetzt grau, das Licht fahl. Rita ist sorgfältig und streng frisiert, ihre Haare sind sorgfältig hochgesteckt. Sie bittet mich hochmütig darum, mit ihr zur Bank zu gehen und Geld abzuheben. Ich antworte ihr hochmütig, dass ich weiß, dass es auf der Bank kein Geld gibt, das sie bekommen könnte, und ich würde ihr ebenfalls nichts geben. Wir gehen über einen Platz, wir sind aus der Menge herausgehoben und ringsherum leuchten die Banklogos. Es gefällt mir, mit schnellem Atem zu reden. Rita nimmt, was ich sage, gleichgültig hin. Ich erkläre Rita, ich will eine Rolle in einem Stück spielen im Schokohaus, aber ich habe den Text vergessen. Rita sagt, dass das Stück vorbei und bereits ohne mich aufgeführt worden sei. Mir bricht Schweiß aus, und ich hoffe, diese Peinlichkeit vor ihr verbergen zu können. Wir sind auf einem Hof, auf dem Baracken und unerlaubter Weise einige Büdchen stehen. Der Boden ist aus festem Lehm. Drei Stufen führen zu den Barackentüren. Es ist jetzt ein Traum, den ich bereits kenne. In den Baracken befinden sich Pritschen mit weißen gestärkten Laken. In allen Baracken stehen die gleichen Pritschen, aber jede hat trotzdem ihren eigenen Charakter, durch die verschiedene Stellung der Betten und die verschiedenen Ausformungen der Nischen für die Waschbecken und Spülsteine, nur die Mittelzimmer sind gleich. Ich habe eine Gruppe von Menschen verloren, der ich angehöre. Es ist schwer, Luft zu bekommen. Ich weiß, dass wie immer kein Mensch greifbar ist und dass ich nicht sprechen kann. Ich denke, dass eine fremde Hand nach mir greifen wird, in unmittelbarer Nähe meiner Lunge.

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Ich muss versuchen, den Traum zu verlassen oder wenigstens eine andere Richtung einzuschlagen.

 

Sie habe selten rote Schuhe gehabt, aber hin und wieder schon, einmal ein spanisches Paar, recht flach, aber rot, in einem Laden in Sevilla gekauft. In Martins Blick erschien plötzlich eine leichte Verwirrung. Sie dagegen hatte eine Deutung des Traumes erwartet. Später wusste sie, dass das der Augenblick gewesen war, in dem er sein Vorhaben, das er am Abend in die Tat umsetzen wollte, nicht hatte verbergen können.

 

Vielleicht komme ich auch in einem Traum dieser Patientin vor. Wir kommen in fremden Träumen vor, meistens ohne es zu erfahren.

 

Martin sprach von seiner Frau Yvonne. So als wolle er Iris an etwas erinnern. Sie auf den eigentlichen Sachverhalt aufmerksam machen, wobei sie immer ein kleines Gefühl von Atemnot bekam. Yvonne betrieb eine Buchhandlung und Iris kannte sie flüchtig. Ebenso seine beiden von ihnen adoptierten Kinder. Martin sprach von adoptierten Kindern, was Moos ein wenig befremdete, es stimmte zwar, dass sie adoptiert waren, aber sie waren mit ihm verwandt, es waren seine Neffen. Sie waren jetzt zwölf und acht. Moos fragte hin und wieder nach ihnen und fühlte sich dabei wie eine entfernte Tante. Die Frage, welche Rolle sie in diesem, doch bereits festgelegten Leben spielte, drängte sie, sobald sie in ihr erschien, ab. Sie redete sich ein, ein modernes Leben zu führen, und sie waren sowieso durch ihre gemeinsame Arbeit zusammen und konnten manchmal auch bis spät in die Nacht zusammen sein, ja sogar zusammen verreisen. Sie fragte sich, warum das englische und französische Wort für Eifersucht so eng mit diesem Vorhang verbunden war, sie würde dem einmal nachgehen.

Sie teilte sich einen Mann mit Yvonne. Sie glaubte, sie wäre souverän. Der Große hätte eine Schlägerei in der Schule gehabt, sagte Martin. Im Prinzip verstünde er nicht, was da vor sich gehe und wie ernst das zu nehmen sei. 

Er legte eine Kirschtomate auf seinen Teller, schnitt sie behutsam mit seinem Sägemesser durch. Er streute Salz und dann Pfeffer auf die Tomatenstücke und verzehrte sie. Zum Schluss des Essens bestrich er eine Brötchenhälfte mit Butter, nahm einen Löffel Honig aus dem Glas und ließ den Honig auf das Brötchen träufeln. Sie ließen die Reste der Mahlzeit auf dem Tisch stehen. Moos würde sie heute Abend wegräumen. Auf dem Weg zur Praxis zeigten sie auf die ersten Boten des Frühlings, gelbe und lila Krokusse in einer Grünanlage, dabei legte er seinen Arm einen Moment lang auf ihre Schulter.

 

„Der Patient hat eine narzisstische Anwartschaft, würde

diese bestritten, hieße das für den Patienten, dass

 ihm das Recht zu leben abgesprochen werden soll.“

(Christa Rohde-Dachser, Das Borderline-Syndrom)

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Die fünfte und letzte Patientin kam zu einem Vorgespräch. Sie hieß Astrid Nessun. Moos war der Name aufgefallen und sie hatte sich kurz damit beschäftigt. (Nessun, Niemand). Im Kölner Örtlichen gab es zwei Einträge mit dem Nachnamen Niemand und einen Eintrag mit dem Nachnamen Nessun. Moos kannte das Wort aus der Oper (Turandot), von der bei ihr eine CD existierte, und die sie schon gemeinsam mit ihrem Vater gesehen hatte.

 

Nessun Dorma.

 

Astrid Nessun war Modedesignerin, Schneiderein, Weberin und nun, wenn sie wollte, die zweite Selbstständige in ihrer Praxis. Moos bat sie Platz zu nehmen. Die blonde Frau in Jeans und weißem T-Shirt folgte dieser Einladung, wie Moos schien, etwas bockig, ähnlich einer pubertierenden Jugendlichen, die sich sogleich übermäßig breit hinflegeln würde. Aber ganz im Gegenteil setzte Astrid Nessun sich zweimal korrekt abgewinkelt in den Stuhl und legte die Hände in den Schoß. Sie fixierte das Plakat an der Wand hinter dem Schreibtisch, auf dem eine Grafik des verpackten Reichstages zu sehen war. Moos hatte dieses Plakat, als sie es im Museum entdeckte, sofort als sehr geeignet für einen Behandlungsraum gefunden. Das Originalkunstwerk hatte sie leider versäumt. Frau Nessun zeigte zunächst keine Reaktion, als Moos sie ansprach. Sie sah mit großen Augen in sich hinein. Moos begann so wie sie schon häufig begonnen hatte, mit einem Monolog, in dem einige theoretische Erklärungsansätze vorhanden waren, mit denen Moos das Vertrauen der Klientin gewinnen und mit denen sie ihre Rolle in ein vertrauenswürdiges Licht rücken wollte. Ich weiß, sagte Moos, sehr um Vorsicht und Sanftheit in der Stimme bemüht, auch wollte sie zum Ausdruck bringen, dass sie da sei, um zu schützen und zu helfen.

 

Ich weiß, sagte Moos, dass Sie nach einer tiefen Krise, Sie haben das am Telefon erwähnt, hier sind.

 

Dass die Krise akut war, bemerkte Moos nicht. Die Frau lehnte sich, die Therapeutin fixierend, zurück. Moos konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Solange sie sich in diesem Modus befanden, war alles in Ordnung. Sie nickte der Schneiderin zu.

 

Sie haben einen kleinen Sohn. Er braucht sie.

 

Astrid Nessun nickte, während ihr Blick eine Frage anzudeuten schien. Moos stellte sich einen Sechsjährigen im Fußballtrikot vor, der auch regelmäßig zum Schwimmen ging. Das Kind war vielleicht nicht in den Brunnen gefallen. Sicher waren Frauen vom Schlage der Designerin keine unproblematischen Mütter. Aber wo gab es überhaupt unproblematische Mütter.

 

Ich denke auch, dass ich verstehen kann, dass Ihnen der Weg hierher schwergefallen ist, sagte Moos.

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Sie können gar nichts verstehen, rief Astrid Nessun.

 

Richtig, dachte Moos, es sollte hier nichts gedeutet werden. Denn Deutung bedeutet in die Nacht gestoßen zu werden.

 

Moos hatte die Aufgabe, sich als Mitmensch und Modell zu bewegen. Dieses, die Kommunikation abtötende Verstehen, insbesondere zu schnelle Verstehen, diese Undercover Deutung waren das Gegenteil von Unterstützung.

 

Sie entschuldigte sich: Sie haben Recht. Ich verstehe gar nichts. Ich muss mich erst darum bemühen, was ich aber gern tun werde. Ich muss mich zuerst vorstellen, damit Sie entscheiden können, ob Sie zu mir in die Therapie kommen wollen. Dabei ist es egal, wie Sie sich entscheiden. Vielmehr ist es sehr wichtig, dass Sie jemanden finden, bei dem Sie sich gut aufgehoben fühlen und bei dem Sie denken, dass Sie mit ihm sprechen können. Ich möchte sehr gern, dass Sie einen guten Therapeuten bekommen.

 

Astrid Nessun sah an der Frau, der Psychologin, vorbei auf das Bild an der Wand. Sie kannte es. Sehr schön. Wie ein Kleid. Die Künstler hatten, es waren ein Mann und eine Frau, dem Gebäude ein Kleid angezogen. Natürlich liebte sie Zeichnungen von mit Stoff verhüllten Körpern.

Es würde ihr vielleicht nicht gelingen, ihr Gesicht zu der Psychologin zu drehen. Lange hatte sie nicht Zeit, das hier war nur ein Vorgespräch. Vielleicht, wenn die Psychologin einmal selbst aus dem Fenster blicken würde, könnte sie den Moment nutzen, ihre Augen auf sie zu richten. Wenn diese sich dann wieder umsah, würden ihre Blicke einander kreuzen. Sie würde die Psychologin nicht in ihrem Redefluss unterbrechen. Sie hörte ihr aber nicht zu. Was die andere sagte, war für sie nicht von Interesse. Wahrscheinlich wollte sie ihr helfen. Bis jetzt hatte sie sich immer selbst helfen müssen. Das würde sie jedenfalls vorerst behaupten. Und dann würden sie weitersehen. Die Psychologin war jetzt mit ihrer Rede zu Ende. Sie suchte den Blickkontakt. Astrid sah aus dem Fenster. Unter dem Fenster befand sich die Bushaltestelle. Es war einfach, hierher zu kommen. Sie würde jetzt sagen, dass sie nicht so viel Zeit hätte. Sie war in Ordnung und hatte auch keine Angst nach Hause zu gehen. Plötzlich gelang es ihr, den Blick auf die Psychologin zu richten. Ihre Augen schauten nun direkt in die anderen Augen. Sie waren sehr hell, es war ein sehr helles Blau. Sie sagte nicht, dass sie morgens mit dem Gedanken aufwachte, sich umbringen zu müssen. Sie dachte an Lars, der ihre Wohnung verlassen hatte und nicht mehr für sie zu sprechen war. Sie hatte versucht ihn anzurufen und ihm Nachrichten geschickt, ihn damit bombardiert. Er war bezüglich ihrer Beziehung nicht rückfällig geworden. Seine Standhaftigkeit war beeindruckend. Aber das teilte ihr auch eine wichtige und eindeutige Sache mit. Und er hatte nicht auf das Kind Rücksicht genommen, das zwar nicht sein Kind war, aber um das er sich so wie sie gekümmert hatte. Sie durfte jetzt auf keinen Fall weinen. Es war hier alles ganz hell und ruhig, alles


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beruhigend mit dem bekleideten Gebäude an der Wand. Wenn sie nicht wusste, was zu tun war, fing sie zu schreien an. Es war besser zu schreien, als von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden. Sie spürte es im Kopf, in den Zähnen, in den Gehirnwindungen. Dann musste sie mit dem Kopf an die Wand. Es war zu viel für ihn. Er wollte sie zu einem Therapeuten schicken. Heute war sie hier. Die Frau hatte ihr eine Frage gestellt, die sie nicht verstanden und nicht beantwortet hatte. Sie wollte jetzt sagen, dass sie einverstanden war, hierher zu kommen für eine Therapie. Aber die Frau fragte, ob sie schon Erfahrungen mit Psychotherapien gemacht habe. Das verneinte sie. Sie wollte sich jetzt nicht damit beschäftigen, vielleicht später, aber nicht jetzt. Sie hatte damals sich das Leben mit der Klinge nehmen wollen. Weil sie sowieso schnitt, wollte sie es mit den Pulsadern versuchen. Lars konnte sie nichts vorwerfen. Er hatte die Badezimmertür aufgebrochen. Er hatte angefangen zu heulen und war heulend zum Telefon gelaufen.

Jetzt begann sie zu reden. Sie sagte, dass sie sich freue, herzukommen zur Therapie. Sie müsse jetzt aber gehen. Sie sei verabredet. Nein, sie hatte keinen Kalender dabei. Aber sie konnte den Termin speichern. Sie nahm das Handy aus ihrer Jackentasche, welches sie die ganze Zeit nicht ausgestellt hatte obwohl ihr das Schild mit der entsprechenden Bitte nicht entgangen war. Sie rief den Terminkalender auf und gab Datum und Uhrzeit der ersten Sitzung ein. Sie konnte natürlich am Vormittag. Sie war selbstständig. Sie konnte sich ihre Zeit einteilen, wie sie wollte. Sie hatte sich nicht erinnert, wo ihr Kleiner gewesen war. Sie hatte sich doch nicht in Gegenwart des Kindes umbringen wollen. Nein sicher nicht. Ganz sicher nicht. Ihr würde wieder einfallen, wo Lucas gewesen war.

Moos räumte ihren Schreibtisch auf. Frau Nessun hatte ihr zum Abschied die Hand gegeben. Sie war freundlich. Es konnte sein, dass sie froh war, weil es endlich Zeit war zu gehen.

Die Patientin hatte also ein Recht darauf, getragen zu werden. Es erforderte eine hohe Konzentration. Sie durfte das Innere nicht berühren. Es gab nichts Unbewusstes. Moos stellte sich darunter innere verstaubte Stapel vor.

Johansen nannte all diese Frauen, auf die sie in ihrer eigenen Arbeit traf, liebevoll, selbstverständlich immer liebevoll, unsere Borderliner.

Martin sah Iris‘ letzter Patientin für den heutigen Tag, vom Fenster aus hinterher. Sie war schön, hatte ungewöhnlich lange Haare und stolzierte ein wenig mit erhobener Nase auf der Straße entlang. Vielleicht hätte er verhindern sollen, dass Iris mit einer neuen Behandlung begann. Der Zeitpunkt war gekommen, den er gewählt hatte, bevor sie ins Wochenende gingen. Er führte jetzt gleich aus was er sich vorgenommen hatte und ihm war schlecht. Er hätte sich heute Mittag eine Ausrede ausdenken können, sagen, dass er verhindert sei, an ihrem Ritual des mittäglichen Frühstücks teilzunehmen. Nun würde in wenigen Minuten eine Katastrophe über sie hereinbrechen. Er hatte sich das gut und lange überlegt, sogar zusammen mit Yvonne, zumindest hatte er angekündigt, was heute geschehen würde. Hatte er es auch versprochen? Sie hatte ihm kein Versprechen abverlangt. Sie würde ihre Konsequenzen ziehen, wenn er nicht die Beziehung zu Iris beendete. Die Liebes-, nicht die Arbeitsbeziehung. Das klang ganz sachlich, fast ohne


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Gefühl, dachte er plötzlich. Was hatte er sich hier für eine Scheiße eingebrockt. Nein, was hatte ihm diese verdammte tödlich verunglückte Schwester eingebrockt. Obwohl sie, Yvonne, seine Frau, in letzter Zeit nichts mehr dazu gesagt hatte. Er wusste, was sie verlangte. Ihr Schweigen hatte etwas ausgelöst. Sie hatte aufgehört zu drohen. Sie hatte aufgehört zu bitten. Ihm war auch klar, dass er sie auf keinen Fall verlieren wollte. Nach allem. Was hieß schon auf keinen Fall. Es gab keinen Grund, er hatte ihr nichts vorzuwerfen. Aber sie hatten viel miteinander, er scheute sich es, aufgebaut, zu nennen. Sie waren ein Netzwerk, das man nicht zerstören konnte. Das lag für ihn außerhalb des Möglichen. Vielleicht musste er ihr besonders dankbar sein. Nein, das wäre absoluter Schwachsinn. Nichts dergleichen musste er sein. Er sah, dass seine Hände ein wenig zitterten, als er sie hochheben wollte, um die Jalousien herunterzulassen. Es waren ja nicht von Anfang an ihre Kinder gewesen. Es waren die Kinder seiner Schwester, die nicht mehr lebte, die zusammen mit dem Vater der Kinder nicht mehr lebte, die in einen Erdkrater gestürzt und in ihrem Auto ums Leben gekommen waren. An einem schrecklichen schicksalhaften regnerischen Abend im November, an dem sie in Eile gewesen waren. Er und Yvonne hatten die Kinder seiner Schwester adoptiert, die nicht mit im Auto, sondern bei seinen Eltern gewesen waren, seinen und seiner Schwester Eltern. Yvonne hatte es als erste vorgeschlagen oder gewollt. Silvie war ihre Freundin noch aus der Schulzeit. Sie wollte die Kinder ihrer Freundin versorgen, die seine Schwester gewesen war. Er dachte, dass auch Iris ein Kind gewesen war, das eine Mutter verloren hatte. Das Verlieren von Eltern war auch ihr Thema. Eltern oder Elternteile, die sich ins Jenseits verabschiedeten weit vor der Zeit auf ihren Füßen aus dem Haus gingen und im Sarg zurückkehrten. Eine Adoption begann immer mit einer Tragödie und manchmal hielt sich die Tragödie ein Leben lang. Er ging in das andere Zimmer durch die offenstehende Tür. Er ging und fühlte sich von einer äußeren Kraft dirigiert zu ihr hin, die irgendetwas auf ihrem Schreibtisch herumwarf oder einordnete. Und er versuchte sie von hinten in den Arm zu nehmen. Sie machte sich frei und drehte sich verblüfft nach ihm um und sah in seinem Gesicht seinen blöden Gesichtsausdruck, den er jetzt nicht unter Kontrolle hatte. Und dann wusste sie, in einem Augenblick, was er von ihr wollte. Und er bestätigte es.

Vielleicht hätte sie schreien mögen, aber das tat sie nicht. Sie wandte sich ab, drehte ihm wieder den Rücken zu. Sie hielt sich mit ihren eigenen Armen umschlungen. Es sah aus, als würde sie frieren.

 

Da sagte er zu ihrem Rücken: Lass uns wie Erwachsene handeln.  Sie nickte. Lass uns essen gehen.

 

Jetzt begann ihr Rücken zu zucken. Natürlich war das ein ziemlich idiotisches Beispiel für erwachsenes Handeln. Natürlich bemerkte er das auch. Ihre Hände lösten sich von ihren Armen und sie führte sie zum Gesicht. Dann angelte sie ihren Schreibtischstuhl, setzte sich da hinein, bedeckte wieder mit den Händen das Gesicht und begann ziemlich hemmungslos zu weinen. Es war im Moment nicht möglich erwachsen zu sein.

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Vielleicht war es auch nicht möglich, zusammen essen zu gehen. Er hatte da an die dunkle Wirtschaft des Griechen gedacht, in der sie öfter gewesen waren, und er verspürte den Drang, mit ihr in diese Restauration zu fahren, so als könne sich dort eine einfache Lösung ergeben. So als könne man sich dort miteinander beruhigen, im Angesicht einer Mülltüte in der Toreinfahrt, in der man sein Auto nicht abstellen kann, alles lösen und regeln und Frieden schaffen. Sie sagte, dass sie glaube, dass sie nicht könne. Und er sagte, dass er aber glaube, dass das jetzt gut wäre, dass sie darüber miteinander sprächen, bis sie zur Vernunft kämen und ruhig würden, dass sie sozusagen sogleich mit der Trauerarbeit begännen. Sie seien schließlich zwei Profis. Er fühlte sich etwas erleichtert. Denn er hatte herausgebracht, dass sie beide, Iris und Martin, ihre Beziehung beenden müssten. Er hatte es raus, aber sie hatte gewissermaßen ein Messer in der Brust. Er ging zu ihr hin. Er nahm sich den zweiten Stuhl und setzte sich neben sie. Er sagte ihr, er wolle ihr helfen.

 

Sie antwortete heulend: Ja bitte, hilf mir. Ich weiß nicht, wie du das machen willst. Vielleicht ist es ja einfach nicht möglich, dass du mir helfen kannst.

 

Er drängte sie nun einfach weiter dazu, gemeinsam essen zu gehen. Er wusste jetzt auch, dass er sich durchsetzen würde. Dann ließ er die Jalousien in ihrem Raum herunter und sie stand im Dunkeln auf, und er hängte ihr ihre Jacke, die er von der Garderobe auf dem Flur nahm in erprobter Geste um. Und sie war in der Lage, sie sich anzuziehen. Dann saßen sie in seinem Auto und schnallten sich an. Sie fuhren zu ihrem griechischen Restaurant, das nicht weit entfernt war. Es war die späte Feierabendzeit und Verkehr wälzte sich durch die Stadt. Die Autos, die Busse und die Bahn, die unter der Erde verschwand. Menschen an den Fahrkartenautomaten und in den Geschäften, Menschen in den Cafés. Sie kamen an und der Grieche brachte die Karte.

 

Und du siehst, dass in der Öffentlichkeit alles viel einfacher geht. Man ist etwas abgelenkt, als wenn man sich jetzt irgendwo vergraben und um sich selbst kreisen würde, sagte er.

 

Ich kann nichts essen, sagte sie.

 

Aber du musst jetzt etwas essen, sagte er in seinem väterlichen Ton.

 

Und er war dabei, jetzt alles zu richten, mach einfach, was Papa sagt, dann kommt alles wieder in Ordnung.

 

Moos war außer sich. Sie hätte ihn jetzt schlagen wollen.

 

Lass uns Auberginensalat bestellen, sagte er, ohne auf seine eigenen Bedenken zu hören.


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Sie sagte eine Weile überhaupt nichts mehr. Er ging an den Tresen, weil er nicht warten wollte, und bestellte 2 x Auberginensalat, der, wie sie immer gedacht hatten, genau das Richtige zum Abend war und zwei kleine Kölsch.

 

Jo, sprach der Kellner namens Babis, der sie beide kannte, ein knappes Jo, auf das man sich verlassen konnte.

 

Martin kehrte zum Tisch zurück und setzte sich. Sie saßen auf zwei schmalen Bänken einander gegenüber. Es war eng und wenn man zu zweit hier saß war das einfach spitze. Jetzt stand sie auf und sagte, sie wolle sich nebenan eine Schachtel Zigaretten kaufen. Dabei hatte sie aufgehört zu rauchen. Ein seltsamer Aktivismus. Er schwieg dazu. Dann kam sie mit zwei Schachteln zurück und einem Feuerzeug mit einem Plastikroseninlay. Er schwieg auch dazu, dass sie sich offensichtlich einen Vorrat für die heutige Nacht anlegte. Das Demonstrative war sonst nicht ihre Art, nein, ganz und gar nicht. Und dann packte sie beide Schachteln in ihre Tasche.

Es gab diesen ungeheuren Aufwand zwischen ihm und Yvonne. Das musste Iris sehen. Niemand, der nicht direkt davon betroffen war, wusste, was es hieß, Kinder zu sich zu nehmen, die nicht die eigenen Kinder waren. Auf diese Idee zu kommen, diese Idee auszubauen, sie zu verfolgen und sie dann in die Tat umzusetzen. Man konnte so etwas mit Menschen im Prinzip überhaupt nicht machen. Bert Hellinger, dessen Buch er für sechzig Euro gekauft und sich dann sehr über den Preis geärgert hatte, in diesem Punkt hatte er wahrscheinlich Recht. Adoption war etwas Falsches. Mit welcher Intention adoptieren Leute Kinder? Aus politischen Gründen, aus sozialen Gründen, aus Hilfsbereitschaft, wegen einer Zeugungsunfähigkeit?

Iris sagte ihm jetzt, dass sie damit hätte rechnen müssen, und dass sie irgendwie auch damit gerechnet habe.

Er hatte eine Zeit lang daran gedacht, sich von Yvonne zu trennen. Aber es hatte nicht gereicht, was auch immer, seine Kräfte oder seine Liebe. Das hatte er Iris nicht mitgeteilt. Und das würde er auch jetzt für sich behalten. Es war etwas in ihm, das nur um Silvie, seine Schwester, ging und ihre zurück gelassenen Söhne, um die er sich kümmerte, wie Yvonne, die außerdem der verbitterten Feindseligkeit seiner Mutter widerstehen musste.

Er hatte seine Eltern noch niemals in einem solchen Zustand gesehen, damals, als die Polizei sie vom Tod seiner Schwester und ihres Mannes informierte. Weil beide beim Finanzamt gewesen waren, verstieg seine Mutter sich zu dem Verdacht, es sei ein Attentat auf sie verübt worden. Er hatte seinen Vater hilflos, wie ein kleines Kind erlebt. Sie saßen alle zusammen an einem großen Tisch, dem Esstisch. Die Kinder, Rasmus und Finn, waren ins Bett gebracht und das Geschehen war ihnen vorerst verschwiegen worden. Sie waren noch so klein gewesen. Und er und Iris, sie beide hatten diese Tode in ihrem Leben. Und er wollte nicht ausschließen, dass sie deshalb aufeinandergetroffen waren, obwohl sie das erst später voneinander erfahren hatten, mussten sie aneinander blinde Zeichen gefunden haben.

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Hör mal, wir werden das schon schaffen,

 

sagte er ungefähr zehn Minuten, bevor sie das Lokal verließen, mit einer seltsam gequetschten Stimme.

Iris musste jetzt allein sein. Sie fror, während sie durch die dunkel gewordenen, im Laternenlicht funkelnden, hin und wieder mit leuchtenden Schriften gezeichneten Straßen ging. Sie lief allein und leider hatte sie Martin anschreien müssen, damit er davon Abstand nahm, sie nach Hause zu fahren. Und sie hatte sich erst umgedreht, als sein grüner Fiat 500 verschwunden war. Er musste sofort an der nächsten Ecke abgebogen sein. Wahrscheinlich war sein Vorhaben, ihre Beziehung abends beim Griechen in Würde und Vernunft zu beenden, gescheitert. Nach zwei Gläsern Bier war Moos etwas beschwipst, was unter normalen Umständen niemals der Fall gewesen wäre. Vom Kölsch wurde man im Prinzip überhaupt nicht betrunken. Sie hatte dann einfach ihren Kopf ein wenig auf den Tisch gelegt. Und er hatte nun die Rechnung verlangen müssen.

 

Ich weiß nicht recht, wie ich es auf der Arbeit durchstehen soll,

 

hatte Moos noch gesagt, bevor sie sich des allein Gehens wegen stritten.

Ganz deutlich hatte Iris Moos nun vor Augen, dass ihr Leben nicht aufhörte im Verhängnis zu münden. Zielstrebig und klar, dass ihre Ausweichmanöver halbherzig waren und auf keinen klaren Fokus hinausliefen, was Beziehungen betraf.

Sie stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf und während sie die Wohnungstür aufschloss, spürte sie schon, die auf sie wartende dickwandige Einsamkeit, die durchsichtige, blasse Trostlosigkeit, die Härte der Mauern des schmalen Hauses. Draußen, unter den Leuten zu bleiben, wäre natürlich besser gewesen, da hatte Martin recht. Aber die Menschen mussten halt schlafen gehen und ihre Anwesenheit begrenzen. Wenn man unter den Leuten war, verkapselte sich der Schmerz gewöhnlich, aber jetzt musste sie sich dem schlingenden Monstrum stellen. Sie betrat wütend ihre Wohnung, eilte am Anrufbeantworter vorbei, der blinkte und bedachte ihn mit den Worten

 

                                                                    shut

                                                            up

 

Als sie ihn dann doch abhörte meldete sich ein Kollege/Freund/Bekannter aus den USA, den sie auf dem Sommerseminar Autismus in Boston kennengelernt und dann immer wieder getroffen hatte. Sie war oft in Kalifornien gewesen und hatte einzelne Seminare an der Universität absolviert. Sie sprach ein perfektes amerikanisches Englisch. Dieser Freund oder Bekannte, er hieß Noah und arbeite jetzt also an einer Schule für autistische Kinder in NY, und er sagte, er würde ihr gerne an dieser Schule eine Stelle empfehlen oder vorschlagen, er wolle sie auf keinen Fall nicht gefragt haben. Sie suchten dringend nach Employees. Er sei Noah, er würde sich freuen.

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Es sei eine gute Arbeit, vielleicht eine neue Chance…? Er wisse natürlich nicht… Und natürlich wusste er nicht, dass sie in einer Praxis war.

Sie saß in einem Karussell und eine Metropole wuchs aus dem Boden heraus und nette Menschen gaben ihr lächelnd die Hände. Ich bin eine Amerikanerin, dachte sie. Ich habe euch allen (und nicht nur der, die aus dem Osten kam, dachte sie, deren Englisch praktisch nicht vorhanden, praktisch unauffindbar war) den Goldstein übersetzt. Den Lehrbuchklassiker der Wahrnehmungspsychologie. Sie dachte an ihr Lieblingswort des inneren Memorierens. Rehearsal. Sie war wie gelähmt und gerade unfähig zu antworten.

Sie nahm nun die vorsorglich in größerer Menge gekauften Zigaretten aus der Handtasche. Sie war sich sicher gewesen, dass sie jetzt nichts Anderes tun würde, als zu rauchen. Sie, die Kurse für angehende Nichtraucher geleitet und begrüßt hatte, dass das Rauchen in den Restaurants verboten wurde, würde jetzt exzessiv, eine Zigarette nach der anderen rauchen, um etwas zu tun. Sie nahm das Feuerzeug mit der Plastikrose. Sie würde sich vergiften.

Während sie rauchte, lief sie in ihrem Zimmer auf und ab. Auf und ab, zügig, so als triebe sie Sport. Sie lief, marschierte, wenn sie es recht bedachte, nahm an der Wand einen Zug, inhalierte nicht tief, hauchte den Rauch aus, drehte sich um, marschierte bis zur entgegengesetzten Wand. Es war eng in diesem Zimmer, sie musste auch den Korridor und das zweite Zimmer, ihr Schlafzimmer mit einbeziehen. Dort war noch das aufgeschlagene Bett, so wie sie es am Morgen verlassen hatte und ihr Nachthemd darauf, wie ein sanft gelandeter Fallschirm. Im Wohnzimmer stand vom gemeinsamen Frühstück noch das Geschirr auf dem Tisch. Zwei verkrümelte Teller, zwei Tassen mit Kaffeegrund, Messer und Gabel und ein Brotkorb mit einer übrig gebliebenen Brötchenhälfte. Das alles stand jetzt da vor ihrem zerrissenen Auge. Sie spürte, dass sie es vorerst nicht würde anfassen können. Dann schmiss sie seinen Teller und seine Tasse in den Müll. Sie fuhr fort damit, sich Zigaretten anzuzünden und durch die Wohnung zu laufen. Sie dachte an Yvonne. Moos hatte scheinbar geglaubt, dass diese kluge und belesene Frau das einfach hinnehmen würde, dass Martin auch anderweitig noch involviert war, dass sie einfach so klug war, alles zu tragen, sich aufzubürden, so wie sie sich einst entschlossen hatte, die Kinder ihrer Freundin zu sich zu nehmen. Dass sie das Leben so annehmen würde, wie es eben kam. Und sie hatte sich niemals beschwert, jedenfalls nicht bei ihr. Wie konnte Moos sich auf so etwas einlassen? Oder täuschte sie sich vollkommen. War sie in Wirklichkeit an gar keiner Beziehung interessiert? Oder konnte sie dieses Interesse nicht klarmachen. Sie lief rauchend von Wand zu Wand. Bis das schließlich nicht mehr weiter ging. Sie legte sich auf ihr Bett. Sie drückte die gerade angerauchte Zigarette in der Erde der Palme aus, die neben dem Bett in einem Blumentopf stand. Sie heulte. An Schlafen war nicht zu denken. Sie könnte jedoch eine Schlaftablette nehmen. Auf dem Bücherbord stand die Karte eines Patienten, der sich für sein neues Nichtraucherleben bei ihr bedankt hatte. Dazu hatte ein Strauß orangefarbener Gerbera gehört mit viel Grün. Grün und Orange waren die beiden Farben dieses Straußes gewesen. Das hatte ihr gefallen. Sie

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fühlte, dass ihr Körper von ihr abgetrennt war, von ihr entfernt und dennoch spürte sie seinen Schmerz in ihrer Kehle und in ihrem Magen.

 

Das ist doch nichts Ungewöhnliches, das ist eine Trennung mit den entsprechenden Schmerzen und der entsprechenden Verzweiflung. Der Geliebte ist verheiratet und hat sich entschieden, in Frieden mit seiner Frau und seinen Kindern, in Frieden mit Yvonne und den Kindern seiner verunglückten Schwester zu leben, mit Finn und Rasmus, so hießen sie.

 

Er hatte sich gegen sie entschieden, obwohl sie wirklich kein einziges Mal verlangt hatte, dass er sich für sie entscheiden solle. Das hatte sie sich verboten, so war das. Sie war sich nicht unbekannt. Aber sie vergaß sich selbst. Und vielleicht waren es wirklich ihrer beider Verluste, der Schwester, der Mutter, bei ihm, bei ihr, diese Geschichten im Keller, die sie unbewusst und fälschlicherweise oder eben nicht fälschlicherweise zusammengeführt hatten. Sie pflichtete seiner Entscheidung bei, die sie vollkommen verstand. Es war vor allem der Kinder Finn und Rasmus wegen, das waren skandinavische Namen, aber was ging sie das an, und wollte sie etwa die Verursacherin von weiterem Kinderelend sein? Wahrhaftig nicht. Wie wollte sie aber am Montag zur Arbeit gehen. Moos lief in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Sie legte sich ins Bett, das diesen Bettengeruch hatte. Sie würde es neu beziehen. Sie trank das kalte Wasser unter erschwerten Bedingungen. Es fiel ihr schwer, dieses einfache Wasser zu schlucken. Aber könnte er die Praxis überhaupt alleine halten? Sicher nicht, ganz und gar nicht. Er würde jemand anderes finden? Ihr wurde schlecht und heiß in der Schläfe. Ihre Lunge petrifizierte. Auch die Zähne taten ihr plötzlich weh. Sie musste Wasser trinken, das Fenster aufreißen. Sie hasste die Bäckerei. Und das Rauchen. Monika Johansen. Plötzlich fiel ihr Johansen ein, Monika Johansen, würde morgen nach Köln kommen. Moos stand auf nahm das Telefon mit ans Bett. Sie rief sie auf ihrem Handy an. Ihre vermeintliche Freundin sollte wissen, was passiert war, was ihr passiert war.

 

Hey, sagte Monika.

 

Wie geht’s dir rief Moos, etwas zu fröhlich. Sie müsse ihr vorab etwas sagen. Sie brachte aber vorerst nichts heraus.

 

Ist was passiert, fragte Johansen mit ihrer shit mütterlichen Stimme, die ihr jetzt zu nahe war, so war das also.


Fühl dich bitte jetzt nicht ein! Nicht einfühlen!

 

Weinst du, Iris?

 

Ja. Punkt. Wir haben uns getrennt. Punkt.

 

Ach du Scheiße, Scheiße, Scheiße. Soll ich lieber nicht kommen? .....

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Ja doch komm.

 

Gut, dann komme ich. Moos, du wirst das hinkriegen. Morgen gehen wir Kaffee trinken.

 

Wie sinnvoll, dachte Moos. Wir gehen mit jeder Angelegenheit einfach essen oder Kaffee trinken.

 

Sie sprachen vielleicht eine halbe Stunde, wie in abgekühltem Badewasser, aus dem Moos sich nicht heraus traute. Obwohl sie es nicht wollte, führte sie auch die USA an, so unsinnig und unwirklich und unglaublich das war. Johansen schien zuerst überrascht, machte dann die Wendung zum Positiven und sagte,

 

das wirst du tun….

 

Moos sah die Lichtkreise streuenden Laternen in der Nacht, die sehr still war, nur hin und wieder das Geräusch eines Autos. Er hatte einen kleinen Vorsprung gehabt und die Initiative ergriffen. Für Moos hatte sich bereits eine Praxisperspektive zerschlagen gehabt. Sie war zunächst an einen Betrüger geraten, den sie später verklagen musste. Die zweite Perspektive bot Martin. Sie war sich sicher gewesen, dass etwas, das er anfangen würde, Hand und Fuß hätte. Moos war dann irgendwie eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, war es erst zwanzig nach drei. Sie stand auf.

Monika hatte falsche Vorstellungen von ihr, wenn sie sagte:

 

Komm, das wirst du schon schaffen Moos.

Warum werden wir das schon schaffen, he? Weil wir Psychologinnen sind? Etwa deswegen? Weil wir überhaupt mit allem umgehen können?

 

Monika schlief, sie vögelte vielleicht. Und Martin vögelte mit Yvonne. Sie musste sich erneut Wasser aus der Küche holen. Ihr Hals war trocken. Sie öffnete den Kühlschrank und suchte nach Mineralwasser mit Kohlensäure und trug es vor ihren Computer. Sie ging ins Netz.

Im Licht des Monitors fühlte sie sich nah an einer geschlossenen geheimnisvollen Welt.  Was interessierte sie diese vorauszusehen gewesene Trennung von Martin.

Moos ging im Netz in die USA, sie suchte die Schule in New York City. Aber was könnte sie dort tun, gab es einen psychologischen Dienst? Sie surfte. Sie stieß auf die Information, dass in Thailand der Sextourismus mit dem Vietnamkrieg begonnen habe und die Drogengeschäfte auch. Es gab sehr viel Müll, der sie noch mehr in die Verzweiflung treiben konnte, anstatt sie abzulenken. Sie fand auf YouTube Black Fööss und hörte einen Song nach dem anderen ab. Weinend und weinend. Sie war umsonst nach


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Köln zurückgekommen. Sie ging wieder auf die Seite der Schule. Sie schrieb eine Mail an Noah. Die Zeit war sechs Stunden zurück.

 

Was muss ich tun? What do I have to do?

 

Sie musste noch etwas schlafen. Sie nahm eine Schlaftablette, was sie nur tat, wenn es unbedingt nötig war, das heißt, wenn sie unbedingt schlafen musste und nicht schlafen konnte und stellte sich den Wecker. Sie wollte, wenn sie aufwachte an den Rhein, bevor Johansen kam.

 

                                               Die Stadt und der Fluss

 

 

 

2

Samstag

 

Sie wachte auf. Es war hell, so hatte sie doch eine Weile mit der Schlaftablette geschlafen. Ihr Körper tat weh, die Seele ebenso. Sie joggte an den Rhein. Sie richtete den Tag ein. Sie nahm das Telefon in die Hände.

 

Hier ist deine Schwester Iris,

 

sprach sie ihrem Bruder ins Telefon. Sie sagte ihm, dass sie heute gerne mit einer Freundin kommen würde, wenn es denn ginge. Für sie ginge es kaum anders und sie berichtete die Misere und bat ihn ausdrücklich um Hilfe, die er ihr niemals verwehrte, wenn es nicht gerade vollkommen unmöglich war. Bernhard schwieg einen Moment, so dass sie dachte, ihr Gespräch sei unterbrochen worden, und dann sagte er, dass sie vorbei kommen solle mit ihrer Freundin, zum Abendessen? zum Kaffee?, wie sie wolle. Er und Manuela seien da.

Als er aufgelegt hatte, dachte er für einen Moment, dass etwas eingestürzt sei, von dessen Funktionstüchtigkeit, er überzeugt gewesen war, die Praxis. Er schob den Gedanken vor sich her, das durfte nicht sein. Dann war er wütend und es war komisch, wütend auf einen anderen Mann zu sein, den er nicht gut kannte, den er sich jetzt aber vorstellte. Was seiner Schwester passierte, passierte immer auch ihm. Sie waren Verbündete, keine Rivalen. Iris hatte mit ihren Beziehungen kein Glück. Aus seiner Brüderlichkeit heraus, ja seiner Liebe zu seiner Schwester heraus, wünschte sich Bernhard, dass sie es eines Tages schaffen würde, mit einem vernünftigen Mann zusammenzuleben, als den er sich selbst sah, vielleicht auch ein Kind zu haben, oder war es dazu schon zu spät? Sie war ihm das irgendwie schuldig, weil er wollte, dass sie eine intakte Familie seien und Iris gehörte dazu und musste das Ihre dazu beitragen und aus ihren Missgeschicken herauskommen. Iris sah gut aus und war ein guter Mensch und sie war intelligent. Er wusste es einfach und deshalb musste sie ihren Weg vernünftig gehen. Dieser Typ, mit dem sie eine Praxis

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betrieb, hatte ihm, so dachte er plötzlich, nie gefallen. Er nannte ihn jetzt mittelmäßig und selbstgefällig. Und wie konnte man auf eine so bescheuerte Weise Beziehungen haben, die sich irgendwie ergaben und dann doch nicht passten. Er hörte Element of Crime in seinem Gedächtnis:

 

You shouldn’t be lonely sister,

When you feel blue,

Just give me a phone call, sister,

And I’ll cry with you

I’m your younger brother -only-

But I know what it means to feel lonely

When someone has broken your heart in two.

(Element of crime)

 

Er war zwar ihr älterer Bruder, sagte er sich der Korrektheit halber, aber er war ihre Familie. Er erzählte ihr von ihrer beider Mutter, denn Iris konnte sich, wie sie immer wieder sagte, kaum an sie erinnern, eigentlich gar nicht. Vielleicht hatte sie deswegen Psychologie studiert, in eigener Sache. Damit wäre sie nicht allein. Sie hatte einen vielleicht unbewussten Forschungsauftrag. Die Depression.

 

Psychiatrie, dachte er.

 

Er sah die Eisentür vor sich. Sie war Bestandteil eines Zimmers in der psychiatrischen Klinik. Iris hatte ihm die Frage gestellt, ob er sich erinnern könne, wie sie beide auf das Verschwinden von Edith reagiert hätten. Wahrscheinlich habe ja nur er etwas von dieser Todessituation verstanden. Und er hatte sich in diesem Schmerz gesehen, allein. Eine Schwester war nicht dabei. Iris hatte ihn gefragt, ob sie ihrer Mutter ähnlich sei, und er hatte geantwortet, dass sie das auf den Fotos nachschauen wollten. Sie war ihr irgendwie ähnlich, aber dennoch vollkommen anders. Und damals waren sie Kinder und er hatte im Laufe der Zeit nicht sehen können, ob sie ihr ähnlich würde. Edith war immer die eine unvergleichbare Person.

Sie hatte am Abend mit ihrer Violine an seinem Bett gestanden und hatte ein Schlaflied für ihn gespielt.

 

Schlafe, schlafe, holder süßer Knabe …

 

Sie legte ihr Kinn an die Mulde des Instruments und bewegte ihren Körper wie eine Puppe. Sie stand am Ende seines Bettes zu seinen Füßen damit er sie gut sehen konnte. Ihre Haut war sehr dünn, sie auch. Sie sah spitz aus, wie eine Maus. Sie spielte, sie sang nicht. Er hatte den Text erst später erkannt.

 

Schubert also.


Während sie den Geigenbogen über die Saite zog, blickte sie ihn an. Manchmal lächelte sie. Wenn sie fertig war, legte sie die Geige und den Bogen auf sein Bett, beugte sich über

 

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ihn und gab ihm den Gutenachtkuss auf die Stirn. Abgemacht war, dass er, wenn sie das Zimmer verlassen hatte, sein Nachtgebet sprach.

 

Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Augen zu…

 

Manchmal erinnerte sie ihn daran. Aber er hatte immer gebetet, er war immer der Regel gefolgt. Auch als Iris auf der Welt war, gingen die Rituale weiter. Und nach und nach geschahen die anderen Dinge.

Es gab dann zwei Fälle, bei denen seine Mutter nicht gestört werden durfte. Fall 1 war ihr Unterricht, den sie meist Kindern in ihrem extra isolierten Zimmer gab. Fall 2 war der leere Blick. Störte er sie, wenn sie den starren glänzenden Blick, der aussah, als würde etwas ihn nach Innen saugen, hatte, fand er sie, wenn er ihr Zimmer betrat, nachdem er angeklopft und keine Antwort erhalten hatte, mit dem Rücken zur Tür sitzend, einem wartenden und gleichzeitig abweisenden Rücken. Neben dem Fenster stand ein bis zur Decke reichendes schmales Regal mit Notenheften, manchmal hochkant stehend, manchmal quer liegend, auch einzelne vergilbte Seiten befanden sich darin. Sie hatte ein Foto von ihrem Mann seinem Vater, über ihrem Schreibtisch zu hängen, bekleidet mit einem weißen Kittel, unter seinen Kollegen, die ebenfalls weiße Kittel trugen sowie Fotos, die jeweils die Eltern mit ihm und der kleinen Iris zeigten. Seine Mutter drehte sich zu ihm um. Sie sah ihn an, als er in ihren Blick getreten war und es war ihm so, als wollte sie etwas sagen. Sie sagte nichts. Sie war ein ängstliches Tier, das man auf andere Weise verstehen musste. Er verstand, dass sie ihm sagen wollte, dass sie nicht wollte, dass er sie so sah und dass er gehen solle. Denn so kam es heraus, sie war nicht die, die sie zu sein schien, sie war eine andere. Er verließ gehorsam diesen Ort und wusste, dass sie an diesem Tag nicht mehr aus ihrem Zimmer herauskommen würde. Beim Abendessen erfuhr er von seinem Vater, dass sie sich schlafen gelegt hätte. Er strich sich über die schwarzen glatten Haare, so glatt und gescheitelt und gleichmäßig lang, sodass er manchmal gedacht hatte, sein Vater hätte eine Frauenfrisur.

Eines Abends, als dieser Vater seinen 35. Geburtstag feierte, als viele Leute zu Besuch waren und bewirtet wurden und seine Mutter Edith, sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn wischte, geschah es wieder. Und da er hatte aufbleiben dürfen, während Iris schon ins Bett gebracht worden war, erkannte er an diesem Abend, wie verzweifelt sein Vater war.

Während Edith Teller abwusch, die sich in der Spüle gesammelt hatten, war sie plötzlich erstarrt und ihre Augen traten hervor, zwei schwarze tiefe Seen, die unbeweglich den Augenblick des Abgrunds fixierten. Die Gäste, die Kollegen von Thomas Moos gingen langsam, verabschiedeten sich nach und nach, als Thomas behutsam erklärte, was gerade geschah und dass er seine Frau in die Klinik würde bringen müssen.

Als sie nach Wochen aus dem Krankenhaus zurückkam, entschuldigte sie sich überschwänglich bei Bernhard dafür, dass sie ihn habe so lange allein lassen müssen. Sie ging wieder Einkaufen und schob den Sportwagen, sie gab Unterricht und er sah sie


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wieder in der Küche das Gemüse putzen, mit dem einzigen Messer, das dafür geeignet war, ihrem Küchenmesser, das sie wütend suchte, wenn es verlegt worden war. So ging es ein Jahr und ein weiteres Jahr.

Bernhard erledigte Rechenaufgaben, wenn Edith nicht gestört werden durfte. Er erledigte mehr Rechenaufgaben, als er musste, rechnete mehr Blöcke als erforderlich, auch stellte er sich vor, dass er einmal Lehrer werden würde. Er hatte eine Tafel und Kreide. Iris biss von der Kreide ab, als sie die Kreide in die Hände bekam. Und das hasste er an ihr, dass sie immer das wollte, was er hatte. Sie erhob auf alles einen Besitzanspruch. Er hasste, dass sie sich auf das konzentrierte, was er tat und was er in seinen Händen hielt, damit sie es für sich verlangte. Und dabei war sie nicht für das Spiel mit der Tafel zu gebrauchen. Er brachte einen Freund, der mit ihm in dieselbe Klasse ging, dazu, bei ihm Unterricht zu nehmen. Einmal, als sein Vater bei Edith in der Klinik war, wo sollte er sonst gewesen sein, im trüben Schneelicht eines Sonntagnachmittags, endlich lag Schnee, hatte er sich den Kellerschlüssel aus der Küche geholt. Die kleine Schwester, Iris, lag auf ihrem Bett und schlief und er fand, dass dieser Mittagsschlaf beendet werden sollte. Er war zur Kellertür hinuntergelaufen, der Kellerwärme entgegen, die steile Treppe aus blanken Ziegelsteinen heruntergestiegen, um den Schlitten zu holen, der bei den Fahrrädern stand, deren Speichen glänzten. Er verführte Iris, sich von ihm den Mantel anziehen und die Mütze aufsetzen zu lassen. Dann holte er sein Geld, das er in einer Zigarrenschachtel aufbewahrte. Es waren 5 Mark. Er hatte Iris auf den Schlitten gesetzt und zog sie hinter sich her. Dann war der Schnee plötzlich auf die Seite gefegt und so zog er den Schlitten, auf dem Iris saß, ein Stück an der Seite des Gehweges entlang, wo der Schnee aufgehäuft war. Dann fiel neuer Schnee, weiß und still und kühl. Der Schnee berührte seine heißen Wangen. Iris begann leise vor sich hinzuweinen und er musste sie trösten, musste ihr erklären, dass der Schnee nichts Gefährliches sei. Sein Ziel war der Markt. Er kaufte Pommes. Er spürte die Verantwortung, die er übernommen hatte. Iris wirkte auf einmal sehr klein, wie ein Baby, obwohl sie doch zwei Jahre alt war. Dann sah er, dass Leute sie beobachteten, dass sie auffällig waren. Er setzte sich neben Iris auf den Schlitten und gab ihr eine Pommes in die Hand, die sie sich mit dem Handteller vollkommen in den Mund schob. Dann lachten sie beide und während sie noch aßen und lachten begannen Laternen zu funkeln und er sprang auf und rannte, den Schlitten hinter sich herziehend. Iris war jetzt guter Dinge und feuerte ihn lachend an.

 

Nach Hause, nach Hause.

 

Dort wurden sie bereits erwartet. Die Wut seines Vaters war groß und nur mit einem Blick auf Iris hatte er darauf verzichtet zu schreien und hatte die Luft in sich hineingesogen.

Bald, es dauerte immer eine gewisse, aber nicht zu lange Zeit, konnte er wieder dem Gesang der Geige aus dem Musikzimmer lauschen, dem sterbenden Gesang, wie er


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später, als er ein junger Mann geworden war und Castaneda las, gedacht hatte.

 

Wenn der Schamane stirbt, stirbt auch seine Trommel.

 

Die Töne des Zimmers, der Wand, des Flures verschwanden, das Schaben des Bogens, das Singen und Kreischen der Geige.

Da war sie, die Geige, in seinem Arbeitszimmer, in dem er jetzt stand, sie lag ganz oben auf dem Bücherregal. Niemand hatte sie je wieder gespielt. Keiner von Ihnen hatte das Geigenspiel erlernt.

Und als es geschehen war, als er von seinem Vater erfuhr, dass sie sich das Leben genommen hatte, sein Vater hatte es ihm erklärt mit seinen nervösen Gesten, während er sich selbst vollkommen ruhig gefühlt und diesen Vater fixiert hatte, fütterte er seine Schwester mit Nougat. Er verabreichte ihr mehrere Löffel Nougat und verweigerte ihr das selbstständige Essen. Dann waren sie durch den Park gegangen und er sah seinen Vater den Kinderwagen schieben. Er sah noch ganz genau die Bäume auf dem Weg und den Saum des Rasens und die kahlen Büsche am Horizont.

Sie hatten den Selbstmord ihrer Mutter lange vor Iris verheimlicht, sie war einfach gestorben, tot, das konnte passieren. Sie schien sich sogar damit abzufinden, so oft, wie sie nicht mit am Tisch gesessen hatte, an dem ihnen jetzt immer nur noch der Vater gegenübersaß. Wenn er ihn ins Bett schickte, nicht brachte, wie er das mit Iris tat, kam er nur ins Zimmer, um zu sehen, ob er sich hingelegt hatte. Kein Lied, kein Gebet. Also betete er nicht mehr.

 

                                                                     *

 

Iris stand auf dem Bahnhof und wartete auf die Ankunft des Zuges von Berlin Zoologischer Garten mit Monika Johansen an Bord. Johansen war ihr immer etwas fremd geblieben, zum einen aus dem Osten, zum anderen hatte sie sich auch der Idee verweigert, gemeinsam mit ihr eine Praxis zu gründen und war schließlich Sozialarbeiterin geworden. Während des Studiums hatten sie sich zusammengetan, waren ungefähr gleichen Alters, älter als die anderen Studentinnen, Moos auf dem zweiten Bildungsweg, sie war auch Krankenschwester, Johansen im zweiten Staat. Sie hatten sich in einem Seminar über Psychosomatik kennengelernt. Speziell war es um chronische Polyarthritis gegangen. Außerdem hatten sie im Vordiplom gemeinsam in der Prüfung in experimenteller Psychologie versagt. Und der Prüfende hatte seinen Triumph gehabt, wohl klar, was passierte, wenn sein Fach vernachlässigt würde. Johansen schien über den Dingen zu stehen, Moss war zum ersten Mal volltrunken aus der Osteria gekommen. An den Nachhauseweg hatte sie sich nicht mehr erinnern können. Sie hatte in einer Studentenunterkunft in Lichtenrade gewohnt. Johansen wohnte natürlich in Kreuzberg.

Johansen war unscheinbar, daran erkannte man sie. Sie trug eine unförmige Reisetasche über der Schulter und eine Handtasche, mehr nicht. Es schien Moss, als gingen sie sehr langsam aufeinander zu. Monika umarmte sie. Sie war wie immer in Schwarz. Sie hatte


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ein Samtshirt an, das Iris von früher kannte, darüber ein Jackett, sie hatte einen Knoten im Nacken mit mattsilberner Haarspange und trug goldene Ringe mit einem feinen Muster im Ohr. Sie selbst war wie immer blond und trug Blau. Sie stiegen ins Auto und brachten zunächst Johansens Reisetasche in die Wohnung.

 

Ich störe dich doch nicht?

 

Das fing ja gut an, dieses Gespräch. Sie lachten. Dann sagte Johansen noch einmal, dass Moos das selbstverständlich schaffen würde, wegzugehen, in ein anderes Land, dessen Sprache sie schließlich einwandfrei sprach. Und dann beschwor Johansen sie genau das zu tun, in ein neues Land zu gehen.

 

Ein anderes Land?


Ein anderes Land, antwortete Johansen bestimmt.

 

In der Wohnung angekommen bewunderte Johansen das von Moos sorgfältig zusammengestellte Ambiente. Bei Johansen selbst sah es eher aus wie in einer Werkstatt. Sie malte. Und außerdem war da die Liebe zum nicht sanierten Altbau. Da sie heute bei Bernhard und Manuela übernachten würden, nahm Johansen das Nötigste aus dem Rucksack und steckte es in die Handtasche. Moos nahm ebenfalls nur das nötigste in einem Beutel mit. Beiläufig sagte sie, dass sie ihrem Bruder von NY noch nichts sagen wolle und ob sich Johansen das merken könne. Sie fuhren langsam den Ring entlang, an der Praxis vorbei, auf die Moos hinwies und kamen nach etwa vierzig Minuten Fahrzeit, geräuschvoll auf einem Schotterweg vor der Garagentür des Einfamilienhauses, vor dem ein weiteres Auto stand, an. Moos drückte lange und mehrmals auf den Klingelknopf. Dann öffnete ein dunkelhaariger, glattrasierter Mann, in einem schwarzen T-Shirt und blauen Jeans die Tür. Er sah die beiden Frauen an, ging auf seine Schwester zu und umarmte sie. Dann schob er sie in sein Blickfeld, betrachtete sie und sagte ihr wie gut sie aussähe. Er ließ sie los und gab Monika die Hand.

 

Schön, dass sie mitkommen konnten.

 

Er dachte, sie sei zur Hilfe gekommen. Aber natürlich würde auch sie alles tun, um Moos zu trösten. Jeder hatte doch eine Trennungsgeschichte und wusste Bescheid. Sie gingen ins Haus und erfuhren, dass Manuela, die Frau des Bruders, Einkaufen war, sie würden ja ein gutes Abendessen haben wollen. Johansen wusste, dass es noch eine Tochter gab, ab sie wohnte nicht hier. Moos würde heute Nacht im Zimmer von Anabela schlafen und Johansen erhielt ein Gästezimmer in der oberen Etage, das der Bruder ihr zeigte. Das Zimmer hatte ein Fenster, einen weißen ovalen Spiegel über einer Kommode und ein Doppelbett mit zwei Nachtschränken. Am Fenster standen ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Nachdem Johansen ihre Tasche an den Stuhl gehängt hatte, zeigte er ihr sein gegenüberliegendes Arbeitszimmer, von dem aus man in den Garten und auf den Frühling


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blicken konnte, das Zimmer war bestimmt von einem sehr umfangreichen Bücherregal, auf dessen letzter Stufe ein alter schwarzer Geigenkasten lag.

Unten im Esszimmer entwickelten sich ihre Gespräche behutsam, in der Atmosphäre des Genusses der Mahlzeit und des Weines. Bernhard hätte sich an einem Entwicklungsprojekt in Mosambik beteiligt. Manuela fragte, ob sie vielleicht Fado hören wollten. Und Moos sagte:

 

Nein bitte nicht heute, keinen Fado.

 

Bernhard erkläre nun Johansen zu deren Erstaunen, dass Mosambik eine Zeit lang sozialistisch gewesen, und vor allem von der DDR unterstützt worden wäre. Er hätte Deutsche in Maputo im Instituto Cultural Mozambik Alemanha getroffen. Es gäbe Straßen mit den Namen von Lenin und Mao Tse Tung. Der Bahnhof sei von Eiffel erbaut. Bernhard redete und redete, was er schon des Öfteren geredet hatte, was alle schon kannten, außer Monika und ihm schien, dass er Monika Johansen aus ihrer Isolation heraushelfen müsse. Er redete und fühlte sich wohl in seiner Rede, als wäre sie der Motor seines Lebens und er raste mit immer höherer Geschwindigkeit über den Schicksalsfluss.

Monika saß nun am Tisch der Familie ihrer aktuell schmerzvollen Freundin, in einem zweistöckigen Einfamilienhaus, irgendwo am Rande von Köln. Die Erwähnung der DDR war ihr peinlich und sie dachte, es würde von ihr erwartet, dass sie Stellung nähme, was sie nicht wollte, oder sie dachte, dass sie es nicht könne, nicht den Erwartungen hier im Raum entspräche. Sie verschwieg ihre Herkunft nicht unbedingt, aber sie thematisierte sie nicht von sich aus. Außerdem war eine Zeit angebrochen, in der sie die Unterschiede selbst nicht mehr erkannte, das heißt, sie erkannte ihre Staatsverwandten nicht, konnte sie nicht mehr von den anderen unterscheiden, es war zu lange her. Als Manuela dann sagte, die DDR sei ein nicht so schlechtes Land gewesen, geriet Johansen für einen Moment in Panik und wusste nicht, was sie erwidern könnte, nur, dass sie es nicht dementieren konnte, während sie einem Blick von Moos begegnete, der ihr wahrscheinlich sagen sollte, sie möge sich nicht so anstellen.

 

Ein Land zu verlassen,

 

sagte sie dann, sei ebenso schwierig und belastend, wie sich scheiden zu lassen. Beides hatte Johansen also hinter sich. Moos nickte skeptisch vor sich hin. Man habe praktisch miteinander Schluss gemacht. Daraufhin sagte Manuela, die Situation für Johansen rettend, dass sie doch alle Europäer seien.

Die Kritik an diesem Land, dachte Johansen, höre sich an, wie etwas stark Gealtertes und verwelktes. Etwas, dessen Kern bald vollkommen vergessen sein würde, ein Mythos, eingereiht in die Geschichten der Welt mit seltsamen Prozeduren, Unterdrückungen, Begebenheiten, Bevormundung und Belästigung, Schmerzen und Gewalt. 


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Manchmal versuchte sie sich ihre seelisch politische Verfassung zu erklären. Die Rebellion gegen die Eltern war keine andere als eben die derselben Generation im Westen, mit der man sich identifizierte. Und man konnte, wenn man Studenten aus Westberlin kennenlernte, die nach Ostberlin kamen, Marx gegen Freud tauschen. Und Johansen hatte Die Traumdeutung dann bei ihrer Ausreise ihrer Mutter überlassen. Sie war das Kind zweier Fachlehrer, deren Fächer waren Biologie und Chemie. Das erlaubte eine Arbeit ohne ideologische Schwierigkeiten. Dennoch war ihre pilzsuchende und in ihrem Garten Pflanzen bestimmende und promovierende Mutter plötzlich, oder auch nicht plötzlich der Partei beigetreten. Johansen wusste es nicht. Sie sah die beiden ehrgeizigen Eltern, die sie mit ihrer Ausreise verraten hatte. Während sie studieren wollte, jedoch nicht Pädagogik. Und sie befand sich im Einklang mit ihrem Verrat. Sie ging den Fragen, warum sie das Land verlassen hatte, aus dem Weg. Sie erinnerte sich gerne an einen Abend im Audimax ihrer Universität mit Petra Kelly, die wie ein Engel aussah. Und sie hatte sich gefühlt, als sei sie zu Hause angekommen. Das sonst gemeinte Zuhause war also ein trügerischer, sich an den Menschen klammernder Ort, der schwor, er wäre das Zuhause, aber er war es nicht. Auch oben im Centre Pompidou stehend hatte sie viel eher das Gefühl von zu Hause gehabt, was das Gefühl der Freiheit war, das sie verteidigte, auch wenn es sich immer nur um Augenblicke handeln sollte.

Von außen hatte das Land, das sie verlassen hatte, das Aussehen eines Gefängnisses gehabt. Zuzüglich der für viele nicht vorstellbaren Form der Begrenzung von Ostberlin als Ummauerung von Westberlin.

Bernhard holte eine Flasche Portwein und stellte Portweingläser auf den Tisch. Er erklärte jetzt, dass sein und Iris‘ Vater nicht besonders streng gewesen wäre. Dabei hätte er Kinder auch nicht besonders ernst genommen. Er hätte sich ihre Weltfremdheit zunutze gemacht. Er hätte sie auflaufen lassen, sagte Iris, immer diese witzige Tour draufgehabt, hätte mit der Spülmaschine gesprochen und ihr mitgeteilt, dass die kleine Iris kommen würde, um sie auszuräumen, und das Geschirr wolle so schnell wie möglich in seinen schönen weißen Schrank. Damals seien alleinerziehende Väter eine Seltenheit gewesen.

Dann war es spät, sie hatten lange gesessen und es sah aus, als hätte Moos sich etwas erholt. Sie waren wohl alle ein wenig betrunken und Johansen ging in ihr Gästezimmer, sah in den ovalen Spiegel und aus dem Fenster auf eine Laterne, die kreisförmig ein Stück Asphalt beleuchtete.

 

 

 

3

Sonntag

 

Es regnete. Es regnete die ganze Nacht und hörte nicht auf. Martin nahm es in seinem Schlaf, in seinem Traum, auf dem Höhepunkt seiner Schlafkurve wahr. Der Regen, lief und lief und das Wasser füllte sich überall ein, zuerst in die Keller, dann in die Autos, die


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im Schlamm steckten. Alles floss. Die ganze Stadt war ein Fluss, aber nicht nur diese. Diese vielleicht am wenigsten. Er sah eine pechschwarze Nacht. Das Wasser war überall. Es war ein warmer, feuchter Schleier. Etwas tröstete ihn. Er suchte nach Yvonne und öffnete die Augen. Sie war bereits aufgestanden.

Als er am Nachmittag auf dem Weg zum Seniorenheim war, um seine Mutter zu besuchen, regnete es immer noch und die Domplatte war ein leerer Spiegel, von dem auch die Bettler und Junkies, bis auf diesen einen, auf den er traf, verschwunden waren. Vor der Tür des Seniorenheims, in der Nähe des Rheins, der die Ufer überschwemmt, die Buhnen verschlungen und die Angler vertrieben hatte, klappte er seinen Schirm zu, schüttelte ihn und versuchte das Wasser von seinem linken Ärmel abzustreichen, den der Schirm nicht geschützt hatte. Seine Mutter war hier, seit sein Vater vor einem Jahr an seinem Herzleiden gestorben war und sie verbreitete wieder folgerichtig die Theorie, dass der tödliche Unfall seiner Tochter und seines Schwiegersohnes, seinem Vater den Lebensmut genommen und ihm das Herz gebrochen hätte. Manchmal hörten sich diese Reden wie ein an ihn gerichteter Vorwurf an, auf den er nicht reagieren konnte, der ihn lähmte. Es war eine Klage und er wusste, dass dazu keinerlei Emotion gehörte. Sie wusste nichts von ihm und sie wusste auch nichts von Yvonne und nichts von Iris, außer, dass sie sein Compagnon war, oder dass er einen Compagnon hatte, er aber der Chef war.  Und sie hatte auch nichts von Silvie gewusst, seiner Schwester, die so fein gewesen war, wie Iris, selbst in ihrem Beamtinnen Beruf. Er und Silvie hatten immer zusammen gefrühstückt, bevor sie gemeinsam zur Schule gingen, denn die Eltern waren früh, sehr früh in der Bäckerei und hatten ihnen das Marmeladenfrühstück auf den Esstisch gestellt und sie gossen sich nur noch die Milch ein. Sie war die Ältere, wenn auch nicht viel älter. Aber er war der Sohn gewesen. Das hatte für seine Mutter eine Rolle gespielt. Es hätte die Übernahme einer bestimmten Rolle bedeutet, hätte einer von ihnen die Bäckerei übernommen, die sie nie und nimmer gewollt hatten. Vielleicht wäre ein drittes Kind nötig gewesen. Er hustete und betrat das Foyer, bei dessen Anblick man den Eindruck haben sollte, sich in einem Hotel zu befinden. Es gab einen Frisiersalon, in dem seine Mutter, die für Damen ihres Alters übliche Kurzhaarfrisur, die seines Erachtens doch eine etwas mildere Punkfrisur darstellte, erhielt. An der Rezeption war niemand zu sehen und so ging er grußlos daran vorbei, benutzte den Fahrstuhl zum dritten Stock, bewegte sich langsam zu ihrer Tür und öffnete sie nach kurzem Anklopfen. An der Wand stand das zum Heim gehörende Bett. Man hatte eigene Möbel mitbringen dürfen, aber kein eigenes Bett. Da lag sie, was ihn ein wenig verwunderte.

Er hatte sich vorgenommen mit ihr nicht mehr zu hadern, ihrer Spießigkeit oder ihrer ständigen Bevormundungs- und Kontrollversuche wegen, an denen sie sich festklammerte. Auf dem runden Tisch lag wie immer eine makellose weiße, am Rand umhäkelte Decke und stand ein kleines Alpacca Silbertablett mit Zuckerdose, aus der ein Teelöffel ragte und einem dazu passenden Milchkännchen. Er hatte die Stühle für das Heim neu polstern lassen, was zu einem Eklat geführt hatte, obwohl er ein ähnliches


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Blumenmuster gewählt hatte. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, nahm ihre kalten Hände in seine warmen Hände und fragte:

 

Du bist noch im Bett?

 

Ich habe mich wieder hingelegt. Ich bin nicht krank. Ich hatte heute nur keine Lust, bei dem Regen, der macht einen müde.

 

Er saß an ihrem Bett. Es schien, als wolle sie zeigen, wie unkonventionell sie wäre. In Wahrheit wollte niemand ein Spießer sein. Dann erzählte sie von ihrer Kindheit, in der sie Strumpfhalter, die sich an einem sogenannten Leibchen befanden und Strümpfe getragen hatte, was sie bei fast jedem Besuch erwähnte, Hosen seien nicht erlaubt gewesen.

Die Geschichten ihrer Kindheit waren zu einer Auswahl von Anekdoten geworden, die sich bei jedem Besuch wiederholte. Sie habe im Frühjahr, auch wenn es noch kalt gewesen wäre, darum gebettelt, Kniestrümpfe tragen zu dürfen. Sie habe als Kind in ihrer Bäckerei, nie etwas nehmen dürfen.

Sie fragte, ob er also Psychologe sei und ob er genügend Patienten habe. Er wusste, dass es besser zu ihren Vorstellungen gepasst hätte, wenn er, schon nicht Bäcker, dann ein Arzt geworden wäre. Wie für viele Eltern, das war seine Erfahrung, gab es die drei Wunschberufe Arzt, Anwalt, Banker und da ging es um die Vorstellung, dass diese drei Berufe ein sicheres, und wohlhabendes Leben zu bedeuten schienen. Der Banker war noch nicht lange dabei. Es war seltsam wieviel man mit der Identität eines anderen Menschen zu tun hatte. Er sagte, obwohl er lieber hätte schweigen wollen, dass sie sich keine Sorgen machen müsse, die Praxis laufe sehr gut. Die Katastrophe ging sie nichts an, ging sie vielleicht nie mehr etwas an.

Wegen des nicht aufhörenden Regens, den sie durch einen Spalt der Vorhänge vor dem dreigliedrigen Fenster sahen, war es heute nicht möglich, mit ihr hinauszugehen, was ihrer beider Situation immer erleichterte. Er hätte also besser die Jungs mitbringen sollen, sie hätten alle gemeinsam am Tisch sitzen und etwas spielen können. Die Jungs machten das gut, auch wenn es ihnen langweilig gewesen wäre. Sie nahmen das als ihre Aufgabe an. Er wusste, dass Kinder das konnten, er wusste auch, dass das nicht zu wünschen war, dass Kinder die Rolle der Erwachsenen übernahmen, dass sie plötzlich die Vernunft repräsentierten, während er und seine Mutter einen unsichtbaren Krieg führten. Unter der Haut. Er zog seinen Regenmantel an und nahm den Schirm. Sie begleitete ihn im Morgenmantel, einem orangenen Morgenmantel, auf dem sich in Schoßhöhe dunkle Flecken befanden, die er nicht zur Sprache brachte, ohne den Rollator zu benutzen, zum Fahrstuhl. Sie hakte ihn gut gelaunt unter und sagte zum Abschied, dass sie bald einmal ihre Enkel wiedersehen wolle.

Er lief durch das angenehme Rauschen des Regens. Es war das richtige Wetter für diesen Tag. Er zögerte einen Moment, bevor er das Restaurant betrat. Es war gut gegangen mit seiner Mutter. Als er sich des Regenmantels und des Schirms entledigt hatte, stand das Kölsch bereits für ihn auf dem Tresen. Und Babis fragte, ob alles in Ordnung sei. Er hatte


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geantwortet, dass alles bestens sei. Er habe Lust auf eine Zigarette. Aber das sei ja nicht erlaubt. Babis grinste ihn an und wies nach draußen, wo auf einem Stehtisch ein Aschenbecher vom Regen beträufelt wurde.

 

Vielleicht willst du was essen?

Heute nicht und außerdem rauche ich nicht mehr.

 

Es war seltsam, wie das Leben jetzt weiterging, dass er hier innehielt und an Iris dachte, mit der er vor zwei Tagen hier gewesen war, wie an ein weißes Blatt Papier. Der Schaum in seinem Mund war angenehm. Er legte Babis einen Schein auf den Tresen und verabschiedete sich mit einem militärischen Gruß: Hand an Stirn.

 

                                                                   *

 

Moos und Johansen standen in der Sammlung Ludwig vor einem Bild von Francis Bacon. Moos versuchte, das Bild in sich aufzunehmen, ihr Gehirn zu beschäftigen. Dieser fremde muskulöse Schmerz des Malers auf rotem Hintergrund ergab den Gedanken an vollkommen ausgelieferte Menschen, die mit dem Fleischsein des Menschen zurechtkommen mussten.   Sie verstand nicht mehr, wo das eigentlich alles hätte hinführen sollen. Sie hatte ihn angeschaut. Sie hatte ihn von weitem betrachtet, vielleicht auch in seinem Schmerz, seinen zurückgenommenen Gesten, seiner Zerbrechlichkeit. War sie die Stärkere? Johansen lief vor ihr her, schien nicht auf sie zu achten. Hatte sie es mit Zurückhaltung zu tun, dieser partiellen Abwesenheit. Sollte sie Johansen doch fragen, wo sie gerade mit ihren Gedanken sei?

Johansen dachte ihrerseits, dass es das Beste wäre, sie blieben noch lange im Museum, bei diesen fertig geformten Dingen. Sie drehte sich kurz zu Moos um, Picassos Frau mit Kinderwagen, wirklich sehr lustig, jedenfalls schon lustig. Rothko eher depressiv, Warhol, die Brilloboxes und die Pepsi Cola. Und die russische Avantgarde, ein schwarzes Rechteck, diesmal. Johansen hatte das Gefühl, dass Moos relativ entspannt war. Eigentlich sah sie gut aus. Man sah oft gut aus, wenn es einem schlecht ging.

Als es aufgehört hatte zu regnen, machten sie sich auf den Weg zum Rhein. Johansens Telefon klingelte in ihrem Beutel, sie nahm es heraus und sagte, eigentlich gehe sie nicht ran, es sei Wochenende, aber dann doch. Es war Nadine, der erste Vorname verweise auf eine französische Kolonialmacht, erklärte Johansen, als sie das Telefon wieder eingesteckt hatte und sie am Stollwerk vorbeiliefen und später ein Stück die Severinsbrücke hinauf. Das Wasser war grün wie die Brücke, auch der Dom war zu sehen. Seit sie einen neuen Partner habe, erklärte Johansen, sei die Frau, die sie Nadine genannt hatte, verschleiert und akzeptiere die Polygamie. Sie blieben auf der Brücke stehen und lehnten sich mit hängenden Armen an das Geländer. Es roch nach Wasser, nach Regen nach Metall oder was auch immer. Johansen erörterte die Lage der Migranten und sagte, dass sie froh sei, all diese kennen zu lernen. Das schütze sie vor Propaganda,


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sie wisse einigermaßen Bescheid, anders als die Politik, denke sie manchmal. Sie seien untergründig auf der Psychosozioplattform, dachte Moos. Und fragte sich, wieviel sie eigentlich voneinander wussten, von ihren jeweiligen Berufen und was dieses Halbdunkel wohl zu bedeuten hätte.

 

Wir essen heute Abend in Bonn, sagte Moos. Wir nehmen die Straßenbahn.


Johansen hatte sich den Montag freigehalten für die Rückfahrt nach Berlin.

In dieser Nacht träumte Moos wieder einen seltsamen Traum:

 

Es sind große Räume, weitläufig und hell. Ein Hotel, in dem sie und die andere Frau, Martins Frau, eine Frau, die zu Martins Geschichte gehört, Zimmer haben. Alles ist weiß, wie im Nebel, auch die Haut der Frau. Sie ist am ganzen Körper mit einer weißen matten Lotion oder einem weißen Puder bedeckt. Sie hat die Haltung einer sich das Bein abtrocknenden in einem antiken Bad. Alles ist deshalb in diesen weißen Dampf gehüllt. Sie weiß, dass nun Martin diesen Raum betreten und was sofort geschehen würde. Es ist eine eigenartige Stellung, wie ihr scheint und sie sieht Martins bloßen Rücken. Wie kommt es, dass sie selbst keinerlei sexuelle Empfindung hat, wo sie doch Zeugin dieses Aktes ist, der sofort hat geschehen müssen. Jemand gibt ihr den Schlüssel zu ihrem eigenen Zimmer. Es ist Anabela, die Tochter ihres Bruders. Sie hat jetzt zwei Schlüssel. In ihrem Raum ist sie ebenfalls von Weiß umgeben. Der weiße Nebel. Es ist nichts weiter in diesem Raum als weißer Nebel. Dann ist die Frau in ihrem Zimmer, lachend, wie im Vorübergehen. Sie sagt, er habe zum Schluss ihr Haar gelöst. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen.

 

Im leichten Aufwachen fragte sich Moos, was das für Träume waren, in denen Sex vorkam, aber keine sexuelle Erregung. Johansen schlief im Nebenzimmer auf dem Sofa. Sollte sie zu ihr gehen? Hatte sie jetzt geträumt, dass Martins Frau auf ihn verzichtete? Sie musste schlafen, sie schlief. Der Schlaf nahm sie noch einmal zurück und gab ihr einen weiteren Traum.

 

Da ist Manuela mit ihrer Tochter Anabela, inzwischen blondhaarig, sodass Iris sie nicht erkennen kann. Sie wohnt scheinbar in einem Zimmer mit Martin. Manuela geht an den Kleiderschrank und entnimmt ihm eine Bluse, schwarz mit weißer Seide bestickt, die Iris, wie sie peinlich berührt bemerkt, nach einer Wäsche in ihren Schrank gehängt hatte. Manuela nimmt die Bluse in ihrer schnippischen Art. Dann schauen Martin und sie sich ihr Zimmer an, es ist feierlich und kostbar, wie in einem Schloss. Da ist ein Terrarium auf einem Kamin, in dem ein Käfer lebt, der eine Perle bei sich trägt. Manuela ist ganz in Schwarz und die Möbel in diesem Zimmer sind aus edlem Holz. Über allem liegt ein blendendes Licht. Martin steht an der Tür mit einem dicken Portemonnaie in der Hand. Iris‘ Portemonnaie, jedoch Martins Geld. Er sagt, wir könnten jetzt nach Venedig hinüberfahren. Ein anderes, ein kleines Kind ist aufgetaucht. Es ist zu spät, man kann jetzt nicht mehr nach Venedig fahren. Es sei ihr typischer Widerstandsgeist. Aber es ist seine traurige immer falsche Einschätzung der Situation. Die Gastgeberin bestätigt


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Martin, dass man noch fahren könne. Das kleine Mädchen nehmen sie mit sich. Iris denkt, dass sie das Geld brauchten. Auf dem Vaporetto sind nicht viele Passagiere. Sie setzen sich einander gegenüber. Iris schaukelt das kleine Mädchen. Martin beugt sich zu dem kleinen Mädchen vor und kitzelt es an den Füßen. Es ist auf einmal sehr klein, ein Baby. Sie freut sich über Martins Freundlichkeit zu dem Kind. Es ist Nacht und es ist Karneval. Sie sitzt mit den Puppen im Zimmer. Die Puppen sind zu ihr zurückgekehrt. Die Puppen sitzen auf dem kalten Kamin. Sie tragen ihre Kinderkleider und ihren Hut. Sie tragen ihre Babyjacken. Sie steht am Fenster. Das Fensterglas schmeckt nach Gras und nach Regenwurm. Es ist ein Film. Jemand dreht sich provozierend nach Iris um. Es ist ein Toter, es ist ihr Vater. 

 

Iris zwang sich, sofort aufzuwachen. Ihr Vater war nicht tot, der Traum log sie perfide an. Außerdem war es ein Traum und der Traum musste jetzt sofort aufhören. Das hier ist nur ein Traum, wach auf! Sie setzte sich auf. Ihr Vater war vollkommen in Ordnung. Sie öffnete die Augen. Laternenlicht fiel matt ins Zimmer. Sie mochte Venedig nicht. Und was war das für ein Baby. Ihr wurde heiß, sie schwitzte sowieso. War sie etwa schwanger? Es müsste schon mit dem Teufel zugehen. Alle die sagten, die Pille oder was auch immer oder das Präservativ hätten versagt, logen, das war ihre Überzeugung. Was für ein Bullshit von Traum.

 

Why are you bullshitting me? Why. Träume sind nun mal Träume, mitunter hässliche oder bedrohliche Träume. Nightmares.

 

Sie nahm einen Schluck Wasser. Es war wieder gegen halb drei. Typisch für einen Albtraum. Hatte sie Lust ihn oberflächlich zu deuten. Ein toter Vater, ein Baby, ein Mann, die andere Frau, die sich die von ihr gestohlene Bluse zurückholt. Und was für ein seltsamer Käfer. Gregor Samsa? Sie musste noch etwas schlafen. Sie musste wieder eine Schlaftablette nehmen. Sie stand auf und bewegte sich leise ins Bad an den Medizinschrank, bemüht, Johansen nicht zu wecken.

 

 

 

4

Montag

 

Kopfschüttelnd fragte sie sich, ob sie Angst habe und das war doch eine interessante Frage, während sie einen der Stühle vom Tisch zog, um sich zu setzen. Er tat das gleiche. Und als sie sich gegenübersaßen, wie immer, fragte er sie:

 

Wie geht es dir?

Wollen wir kurz über unsere Sache sprechen? Es tut mir leid. Das musst du mir glauben. Es tut mir unendlich leid. Aber es ist irgendwie auch richtig.


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Das alles hätte er nicht sagen sollen, denn jetzt musste sie wieder Tränen schlucken, mit geöffnetem Mund so tun als könnte nicht gleich der Speichel aus ihrem Mundwinkel laufen. Dabei musste sie jetzt nur pragmatisch sein, zum Punkt kommen, wie sie so gerne sagten, den anderen sagten. Und da sie nicht wusste, was sie anderes sagen sollte, kam es aus ihr heraus, sie hätte vielleicht ein Angebot aus New York, eine Schule für autistische Kinder, sie habe ja diese Ausbildung, wie auch der Bekannte aus NY, der angefragt habe.

Wie es aussah, wurde er jetzt wütend. Das sei ja ein seltsamer Zufall, und dass sie das jetzt erst sage. Sie kreischte fast ein wenig, er läge da ganz falsch und das hätte ihr noch gefehlt, dass sie jetzt, etwas verheimlicht hätte. Der Anruf sei an diesem Abend, nachdem sie allein nach Hause gegangen war, auf dem AB gewesen. Es sei wirklich ein sehr seltsamer Zufall und vielleicht die Rettung, ob er das nicht auch meine. Er schwieg.

 

Es ist nicht einfach, gell?

 

Jetzt sagte er und auch noch gell, was sie gar nicht vertragen konnte, nicht in dieser Situation. Und da wäre sie am liebsten aufgestanden und hätte ihn in den Arm genommen.

Sie versuchte Johansen zu imaginieren, die jetzt im Zug nach Berlin saß. Ihre schwarz gekleidete Erscheinung mit dem Schild LASS LOS, das sie ja gut kannte. Nun, sie würde sich bewerben, sie müsse telefonieren, sie habe erstmal gemailt. Also das würde noch etwas dauern, nicht morgen. Und natürlich wisse sie nicht, ob das klappen würde. Aber sie hoffe und er solle natürlich nach einer neuen Partnerin suchen. Sie zitterte und schluckte nicht mehr und sie fühlte sich unendlich schwer.

 

Wir kriegen das hin,

 

Sie würden weiter darüber sprechen und überlegen, was alles zu beachten sei, zum Beispiel, wenn sie nicht genommen würde.

Er sah ihr direkt in die Augen. Er hatte sich gefangen und sie ergriff die Distanz, die sich gerade auftat. Die professionelle Distanz, diese wunderbare gütige professionelle Distanz.

Sie war aufgestanden, kurz vor ihm stehen geblieben, hatte ihn nicht berührt, auch er hatte keine Anstalten dazu gemacht, sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, dann gedreht, die Tür geöffnet und war in ihren Raum gegangen. Sie hatten nicht über die Arbeit gesprochen.

Astrid Nessun sah heute aus wie ein alter Lappen. So schnell war es also gegangen oder gekommen. Moos hatte sich mit ihren Annahmen sicher gefühlt. Aber im Grunde geschah das immer, oder meistens auf diese Weise. Aller Schmerz der Welt lag in den Augen ihrer Klientin. In diesem Zustand konnte man nichts anbieten, von dem eigenen Zustand abgesehen: 

 

Ich sehe sehr wohl, dass es Ihnen nicht gut geht.

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Sagte Iris. Astrid Nessun hatte sich hergeschleppt. Sie fühlte sich hilflos. Ihr Sohn Lucas war gestern allein aufgestanden und hatte ihr ins Gesicht geschlagen. So wütend war das Kind auf sie und ihre Unbeweglichkeit. Es war traurig. Sie konnte nicht sagen, warum sie hierher gegangen war. Sie hatte Lucas Vater angerufen und ihm erklärt, dass es ihr nicht gut gehe und dass sie fragen wolle, ob er Lucas abholen könne. Und Lucas hatte angefangen zu weinen und auf seine schlimme Art Mama gesagt. Die Therapeutin brauchte sich also keine Sorgen um Lucas zu machen. So viel Verantwortungsbewusstsein hatte sie schon.

Moos sprach das Thema der Medikamente an. Diese psychische Erkrankung erfordere jetzt die Einnahme von Psychopharmaka.

Sie habe durchaus Verständnis dafür, dass man nicht ununterbrochen diese Pillen schlucken wolle, ja vielleicht auch nicht könne. Aber jetzt war Handlungsbedarf.

Astrid Nessun wusste von dem muffigen bis fauligen Gestank, den sie aussandte, sie wusste auch, dass niemand das nachvollziehen konnte, sie im Übrigen auch nicht, wenn es vorbei war, das war ja der Clou. Sie wusste nicht, wie sie jetzt zum Psychiater kommen sollte, sie wusste es einfach nicht, in keiner Weise. Das einfachste war, sich einliefern zu lassen, dann ging alles seinen Gang.

 

Kümmert sich jemand um Sie?

 

fragte die Therapeutin jetzt. Und diese Frage hasste sie von allen am meisten. Und sie antwortete darauf nicht, spürte nur die Größe ihrer Augen, die irgendwie stillstanden, wie alles an ihr. Wie war sie überhaupt hierhergekommen.

 

Soll ich jemanden bitten, Sie ins Krankenhaus zu bringen? Oder ich bringe Sie. Wären Sie einverstanden? Ich sage nur meinem Kollegen Bescheid.

 

Moos hatte die erste mit der zweiten Frage ausgelöscht. Das war nicht korrekt, aber das war jetzt egal. Astrid Nessun sah sie verzweifelt an und nickte. Die Patientin hatte genickt. Sie bat sie, sich kurz zu setzten und zu warten. Sie klopfte an Martins Tür, öffnete, er war gerade mit einem Jugendlichen beschäftigt, der einen Bogen ausfüllte. Sie entschuldigte sich und bat darum ihn kurz sprechen zu dürfen und er bat den Jugendlichen, der nicht aufsah, um einen Augenblick, er käme gleich wieder zurück und schloss die Tür hinter sich. Sie erklärte ihm die Lage. Sie habe am Nachmittag noch zwei Patienten. Und als der Jugendliche gegangen war, tat er, was Iris ihm aufgetragen hatte, und vergab zwei neue Termine. Dann bat er seinen nächsten Klienten herein. Er war ein kleiner rundlicher Mann mit dunklen bis zur Schulter reichenden Haaren. Er war auch physisch nicht gesund, kam aus dem Krieg, in dem sich ehemalige Freunde plötzlich gegenseitig hätten vernichten wollen, was die Schuld des Politikers sei, und war immer guter Laune. Er hatte eine noch kränkere noch mehr gebeutelte Frau und war praktisch ein alleinerziehender Vater eines kleinen Jungen, den er, wenn er hierherkam nach der


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Sitzung direkt von der Kindertagesstätte abholte. Er war diszipliniert. Er hatte gesagt, dass immer, wenn er schlagen wolle, so wie es wäre, bei ihnen, wäre der Therapeut in seinem Kopf. Das begeisterte Martin, noch nie hatte jemand ihn als eine verlässliche Stimme in seinem Kopf, quasi als sein Überich, bezeichnet, dem er gehorchte. Er kam aus einer anderen Welt. Er war noch zu jung, um ein Erwachsener in Jugoslawien gewesen zu sein. Ein älteres Kind. Wie war er hierhergekommen aus dem Krieg. Jedenfalls bezog er und seine Familie sogenannte Transferleistungen, die das Schreibprogramm als Schreibfehler anmahnte. Und dennoch sei es hier besser, denn er käme aus der Hölle.

Zu einer bestimmten Zeit hatten er und Yvonne sich die Sache anschauen wollen. Jugoslawien nach dem Zerfall und man hatte noch Spuren finden können vom Krieg, der zugunsten Kroatiens ausgegangen war. Oder waren sie ihnen gezeigt worden, beim Gang über die Stadtmauer. Er erinnerte sich. Sie waren in Dubrovnik. Sie saßen in einem Hotelzimmer auf dem Berg. Sie schauten aus dem Fenster auf den Hafen. Gegenüber auf dem obersten Balkon flatterte ein weißes Hemd auf einer Wäscheleine im Wind. Der Himmel, grau ebenso wie das Meer, das einer schuppigen glänzenden Fischhaut glich. Dunkelblau, Dark Blue, Nachtblau, silbern. Das Hemd hatte sich auf seinem Bügel, mit dem es an der Wäscheleine scheinbar nur notdürftig befestigt war, auf der Leine entlang zur linken Balkonbrüstung bewegt. Dort ließ es sich nieder für einen Augenblick und flatterte wieder auf und wieder ein Stück zurück. Sie hatten drei dieser siebenstöckigen Häuser im Blick, ockerfarbener Beton. Ein Streifen sah frisch gestrichen aus. Das flache Dach war grau, glänzend und trug schwarze Spuren von Feuchtigkeit, etwa in der Form eines Kardiogramms. Es hatte tagelang geregnet. Ein Hund bellte ins Universum hinein und nachts in der Dunkelheit bildete sein Gebell mit dem Mond, dem weißen Hemd eine starke geheimnisvolle Imagination. Yvonne hatte vor dem Fenster gestanden, ganz in der Frühe und er hatte geahnt, warum sie nicht schlafen konnte und auch er hatte schlecht geschlafen. Aus dem Balkonfenster heraus sahen sie ein Schiff aus Rotterdam, das im Hafen lag, die Inseln und den Leuchtturm und das Meer hinter den Betonklötzen und die grünen Hügel am Horizont. Sie schien das flatternde Hemd, das auf dem Balkon hing, ein vollkommen einsames Hemd zu befragen. Er fragte sich, was würde diese Geschichte, wenn er sie dem Mann erzählen würde, ihm wohl sagen. Vielleicht würde es ihn peinlich berühren, dass man in seinem Land herumschnüffelte, auch wenn er andererseits wollte, dass man ihn irgendwie verstand. Der Mann hatte am Ende einer Sitzung gefragt, ob Martin Kinder hätte und er hatte jaja gesagt, ohne selbstverständlich zu erzählen, welches Drama diese Kinder mit sich führten, das an ihnen und an ihm hing.

Das Hotel, in dem sie gewohnt hatten, war vor allem auf Engländer eingestellt gewesen, mit einem Frühstück aus Eiern, Bohnen und Würsten, das er aß, Yvonne jedoch nicht. Am Abend waren sie in die Bar gegangen und hinter dem Tresen hatte ein Deutsch sprechender Kroate gestanden, er hatte erzählt, er hätte eine Weile in Deutschland gelebt. Sie hatten stumm genickt, aber auch nichts weiter gefragt. Es schien ihnen nicht

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angebracht, dieses Nachfragen. Und der Barkeeper hatte von sich aus nichts mehr preisgegeben. Martin fiel noch ein, dass Serbien der Nachfolger im jugoslawischen Pavillon der Biennale von Venedig war. Aber der Mann aus der Hölle würde von Venedig nichts wissen wollen.

Die erste Verwirrung, an die er sich bezüglich der Jugoslawienkriege erinnern konnte, war die um die Position Peter Handkes, dessen Mutter eine Kärntner Slowenin war, was aber nicht erklären konnte, warum er serbische Kriegsverbrechen dermaßen verharmloste und sich scheinbar zu Milosevic bekannt hatte. Yvonne hatte ernsthaft in Erwägung gezogen, ihn aus ihrer Buchhandlung zu entfernen. Oder hatte sie es getan? Er wusste es nicht. Sie favorisierte eine Weile die Künstlerin und Partisanentochter Marina Abramovic´, die sie mit ihrer Performance des Rinderknochenbürstens namens Balkan Baroque gesehen hatten. Er hatte das Ganze eher zu schwülstig gefunden. Nichts hatte mit seinem Patienten zu tun, seinem Zeugen.

Iris hatte ein Taxi bestellt und Astrid Nessun war ihr zögernd ins Auto gefolgt. Mit diesen starren Augen voller Angst und diesem Schweißgeruch, den auch der Taxifahrer registrierte. Astrid Nessun hatte einmal von dieser Scham gesprochen. Das schlimmste sei die Scham, das furchtbarste von allem. Sie fuhren durch Köln. Iris hatte sie in der Uniklinik angemeldet. Sie war froh als schließlich die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie erschien, die Nessun bereits kannte und von der sie freundlich in Empfang genommen wurde. Iris versprach Frau Nessun nicht, sie zu besuchen, aus Professionalität, obwohl sie auch diesen Hang an sich kannte, sich als Mensch zu geben, als menschlicher Helfer, was eine heikle Angelegenheit war. Sie nahm aber ihre eine Hand in ihre beiden Hände, sah ihr in die Augen und sagte:

 

Es wird wieder.

 

Dann war sie durch Straßen gelaufen. Sie hatte keine Lust gehabt, ein Verkehrsmittel zu benutzen oder ein Taxi. Sie hatte ein Café betreten und Cappuccino bestellt.

 

Allein also, und im Café.

 

Sie dachte an Johansen und an ihr Studium, als sie die Todeswellen durch AIDS erlebten. Wo das Angesicht des Todes nicht erschreckend war, sondern sie alle betäubte, manchmal in einen Rausch versetzte. Es gab Alkohol und Travestie und außergewöhnliche Begräbnisse. Bis es doch zu viel wurde und das Maß voll war. Tsuneo, der ebenfalls dort gearbeitet hatte und der gesagt hatte, Japaner und Deutsche hätten, eine gemeinsame Vergangenheit und die Sprachen hörten sich in beiden Fällen wie das Bellen von Hunden an, war später auch an AIDS gestorben. Die Deutschen. Für Harold Brodkey war der Deutsche eine Art Knochen, blass und hell, dieser helle deutsche bellende Knochen, dieses helle knöcherne, bellende Ressentiment. Sie erinnerte sich an den Vortrag eines Amerikaners, der sein Leben mit einer einzigen T-Helferzelle beschrieb. Die Staaten also.


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Die sie schon immer geliebt hatte. Würde es darauf hinauslaufen? Ein anderes Land? War das nicht eine infantile Sehnsucht? Sie dachte an das Grab ihrer Mutter.

 

Hi mum, wie geht es dir? Siehst du wie schlecht ich drauf bin. Wird es immer so weiter gehen. Und wie war für dich das andere Land?

 

Ihre Gesichtshaut spannte ein wenig. Und das, worüber sie immer noch nicht richtig nachdenken wollte, waren die bürokratischen, insbesondere finanziellen Komplikationen einer Übergabe. Aber gab es nicht viel Schlimmeres auf der Welt.

 

Naturalmente. Alles wird gut. Gehen Sie an die frische Luft. Atmen sie tief ein und aus. Verlassen Sie die Szene. Bewerben Sie sich.

 

 

 

5

September

Langsamer Herbst

 

Yvonne war wieder im Laden, in ihrem Laden. Seit es den Internethandel gab, ging es der Buchhandlung besser. Iris, die sie nun nicht mehr gesehen hatte und die sie auch nicht hatte sehen wollen, oder sogar können, würde nach New Yorck gehen, folgerichtig, wie es hieß. Yvonne hatte ihr gewünscht, dass sie das schaffen würde. Sie hatte sogar für sie gebetet und ihr Reiki geschickt. Sie konnte das Gefühl dieser Frau gegenüber nicht richtig fassen. Sie war vielleicht keine Rivalin gewesen. Sie hatte nur gestört, so sehr gestört, in diesem Schicksal, das Martin und sie und die Kinder ereilt hatte, und in das sie sich eingeschlossen und in dem sie eine gemeinsame Verantwortung hatten. Yvonne hatte den Bruder ihrer besten Freundin geheiratet, in einer Zeit, in der man eigentlich nicht heiratete, aber sie war eine Katholische. In der Kleinstadt, aus der sie kam, gab es eine Ruhe-Christi-Straße, die Frieden ausstrahlte auf eine katholische Weise, auch wenn sie trügerisch war.

Martin hatte sie eine verschlossene Muschel genannt und in irgendeiner Weise war sie in ihrem Muscheldasein, als Perle vielleicht, aufgegangen. Martins Schwester, ihre Freundin Silvie, war immer die Dominante gewesen. Sie hatten in der Clique im Café gesessen. Yvonne trug aus irgendeinem Grund einen Hut, hatte ihn aufbehalten. Und als sie einmal eine Bemerkung gemacht, sie erinnerte sich nicht mehr, welche, hatte Silvie Yvonne plötzlich aufgefordert, den Hut abzunehmen:

 

Willst du nicht endlich den Hut abnehmen?

 

Das hatte sie bis heute nicht vergessen. Und tatsächlich hatte sie den Hut abgenommen, einen lila Hut, gehäkelt mit einer schmalen Krempe, die ihr Gesicht verschattete. Sie hatte gehorcht. Aber sie war nicht Juristin geworden, wie Silvie.

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Sie ging zum Schaufenster und sah zwei kleine lärmende Mädchen und verbat sich das Gefühl des Gestört seins, denn es war Kindern ausdrücklich erlaubt, Lärm zu produzieren. Aber natürlich konnte man sich kein Gefühl verbieten, man musste sich rational zur Ordnung rufen. Und siehe da, es versöhnte sie, dass sie ein altbekanntes Kinderspiel spielten und, dass es dieses Spiel noch gab:

 

Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser,

 

riefen zwei Mädchen und das dritte, ihnen gegenüberstehende, nannte eine hohe Zahl. Dann blieb eine hell gekleidete, einen Kinderwagen schiebende Frau bei ihnen stehen, mit einem kleinen hellblonden Mädchen, das ein schwarzes Kleid und schwarze Strumpfhosen trug. Es hielt einen durchsichtigen Plastikschirm vor sich hin.

 

Und wie kommen wir herüber?

 

Das, den beiden rufenden Mädchen gegenüberstehende, gab nun eine tanzende Bewegung vor. Und die Freundinnen begannen zu tanzen. Die Frau klatschte in die Hände.

 

Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ein kleines Kind schwarz zu kleiden?

 

Dachte Yvonne, als die Tür aufging und eine Kundin eintrat. Sie begrüßte die Kundin mit ihrer ruhigen und charmanten Art, von der sie wusste, dass sie die Menschen einlud, anstatt ihnen das Gefühl eines Übergriffs zu geben. Die Kundin zeigte mit dem Finger auf die Merve-Verlagsreihe, da wollte sie hin und Yvonne erinnerte sich, dass jemand angerufen und nach einem Mervebuch gefragt hatte. Und sie kamen in ein kurzes Gespräch, das ihr gefiel. Und sie sagte, nachdem sie ihr das Buch ausgehändigt hatte, es sei eine schöne Buchhandlung gleich neben dem Fahrradladen. Sie trug eine schmale Tasche unter dem Arm, die sie auf das Brett am Tresen stellte, um ihre Karte aus einer Brieftasche zu holen und Yvonne hielt ihr den Kartenleser hin. Die Kinder und die hellgekleidete Frau mit dem schwarz gekleideten Kleinkind waren verschwunden. Als Yvonne allein war, nahm sie ein Buch von Anna Achmatowa zur Hand. Es war schön jetzt auf sie zu kommen, die ihre Gedichte mündlich überliefert hatte. Das Buch war zweisprachig und sie liebte es besonders bei Gedichten, die Originale zu lesen und zu untersuchen. Sie hatte in ihrer Jugend zusammen mit ihren fortschrittlichen katholischen Eltern vor einer Reise ans schwarze Meer einen Crashkurs Russisch besucht. Es sei schließlich nötig eine fremde Schrift zu entziffern. Und später hatte sie Russisch belegt, weil sie besonders aktuell sein wollte.

 

Anna Achmatowa: Есть свидетель – dort ist der Zeuge

(Анна Ахматова) die Zeugin: стоит свидетель

 надо мной стоит свидетель - Über mir steht der Zeuge.

 

Auch Sylvia Plath hatte sie in englischer Sprache:

 

Sand abraded the milkless lip. Sand hat abgeschürft die milchlose Lippe.

Dachte Yvonne. Ich liebe Sylvia Plath.Und natürlich liebte sie Christine Lavant.


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Sie jedenfalls las Gedichte. Sie kannte niemanden, mit dem sie das teilte. Tatsächlich wurden selten Gedichte gekauft. Aber sie hatte sie.

Gegen Abend kam Martin mit Finn in die Buchhandlung und sie bewegten sich in die Kinderecke, die sie eingerichtet hatte, obwohl der Laden nicht allzu viel Platz dafür bot. Es war wichtig, den Kindern die Bücher nahezubringen. Der Laden war ein Ort der Ruhe und Beschaulichkeit und des Maßes, er erzeugte das Gefühl, man könne das Leben neu beginnen. Oder es war die Zeit, die, obwohl sie verging, stillzustehen schien. Finn begann sofort auf dem bereit gelegten Papier, mit den bereit gelegten Buntstiften zu zeichnen. Bernhard schaute scheinbar nach einem bestimmten Buch.

Sie versuchte niemals herauszubekommen, wie es ihm ging und was er an Gefühlen verbarg. Sie waren unantastbar, alle beide.

 

Erinnerst du dich an Dubrovnik? Fragte er.

Ich habe einen serbischen Patienten.

 

Dubrovnik ist kroatisch.

 

Ja, aber es war Jugoslawien. Er macht die Politiker dafür verantwortlich, dass sie mit dem Messer aufeinander losgegangen seien.


Sie schwieg.


Erinnerst du dich an das weiße Hemd auf dem Balkon, ein einsames Hemd

im Wind?

 

Sie erinnerte sich nicht. Sie erinnerte sich an ein seltsames Unbehagen. Einen kürzlich oder nicht so kürzlich vergangenen Krieg, dessen Spuren noch leicht zu erkennen gewesen waren, wenn man darauf hingewiesen wurde. Wie schnell es ging, dass die Vergangenheit verschwand. Eine nach außen einheitlich wirkende Vergangenheit. Und sie konnte den Sinn der zahlreichen Feindseligkeiten im zerbrochenen Jugoslawien emotional nicht besetzen, wie Martin das nennen würde. Verwirrend war die Position des Dichters Handke zu Serbien, den sie trotzdem schätzte, trennend den Dichter von der Person, soweit das ging. Oder die Serbin Marina Abramovic´: 

 

With a sharp knife cut deeply into the finger of your left hand. Eat the pain.

Marina Abramovic´

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6

Die Insel

 

Das Schiff bewegte sich mit dem Meer, sodass Thomas Moos kurz befürchtete, seekrank zu werden. Trotzdem wollte er etwas zu sich nehmen, ein Stück American Cheesecake und einen Kaffee, den er am Tresen unter Deck holte und schwankend an seinen Tisch unter den Rundfenstern brachte. Seine Tochter liebte amerikanische Kuchen, Cookies, Cakes und Scones, sie liebte Amerika, auf das sie sich bereits einstellte, auf die so genannten Staaten, wie sie dieses Land, das er noch nie geliebt hatte, so gerne nannte. Und bei diesem Treffen mit ihrem Vater, mit ihm, Thomas Moos, auf der Insel, der sie beide zugetan waren, handelte es sich also um das Abschiedstreffen oder die Abschiedsreise. Er setzte sich umständlich auf die rotbezogene Bank und befand sich mit den Wellen auf Augenhöhe. Das Wetter auf See war gut. Die Sonne schien, obwohl eine Wolkendecke angesagt war. Es war Mitte September

 

und wir befinden uns im, so dachte er, und fragte sich, wie oft am Tag er dieses Wort dachte, Klimawandel.

 

Aber, und so gestand er sich das ein, hing ihm das ganze politische Theater inzwischen zum Hals heraus. Er war alt, hatte zu arbeiten aufgehört und er wusste, sobald man in eine chefartige Stellung aufgestiegen war, in einem Unternehmen, das etwas entwickelte, das dann auf den Markt kam, waren die Widerstände dahin. Man hatte einen Mantel um sich herum und man war selbst ein Mantel, daher ein bestimmtes Gefühl von Sicherheit, ja fast Geborgenheit in der Macht. Er gab andererseits dem in der Arbeit auftretenden Stress die Schuld an zu hohem Blutdruck, an den Arztgängen, zu denen er sich gezwungen sah, an der immer länger werdenden Schatulle, welche die täglich einzunehmenden Tabletten beherbergte.

Aber jetzt, wo er doch frei war, spürte er eben nur die Freiheit des Rentners, die ihn neben der Weigerung dieses Wort zu integrieren, befremdete.

 

Mon Dieu, muj Boze! Was für ein bullshit.

 

Er hatte keinen Computer mehr dabei, natürlich ein Handy, wobei er sich darin gefiel, ein ziemlich leeres zu haben.

 

Wir machen den Müll nicht mit, sagte er sich, wir wissen Bescheid.

 

Aber wer war Wir. Das Wir war vorbei. Er war ein Ehepartner, nachdem er ein Witwer gewesen war. Er war ein Informatiker und ein alleinerziehender Vater, eines älteren, ihn möglicherweise verachtenden Sohnes, der die Geige seiner Mutter oben auf dem Schrank bewahrte und einer noch sehr kleinen, sich nicht erinnernden Tochter. Er war aber der Großvater einer wunderbaren Enkelin, die würde den Weg gehen, den er gegangen war.

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Mathematik und Informatik konnten einsam machen. Aber Anabela war eine Empfängerin seiner Nachrichten. Die Generation ihrer Eltern dagegen, so dachte er, war die Verspätete. Es gab immer eine folgende, verlorene Generation, die mit Sinnfragen, zu kämpfen hatte, deren Chancen vertuscht waren, bevor die nächste die Chancen wieder ergreifen konnte, weil es wieder einen Anfang gab. Seine Eltern hatten die Nazigeneration repräsentiert, die er in seiner Jugend ausgiebig bekämpft hatte. Und für ihn hatten diese Nazi-Eltern eine vollkommene Klarheit seines Weges erzeugt. Wogegen, wofür, wohin. Nicht, dass aus seinen Kindern nichts geworden wäre. Das wäre ja auch noch schöner. Sie hatten ihre mehr oder weniger erfolgreichen Geschäftsideen.

Die Fähre war nicht gerade ein angenehmer Ort, kalt, mit den zwei Personen in seinem Blickfeld, die er hässlich fand, die aber in seinem Alter zu sein schienen. Ein altes Ehepaar, das, schweigend wie er, sich über Kaffee und Kuchen hermachend, ihn dennoch dazu brachte, ihnen wohlwollend zuzunicken. In der Ferne sah er einen Streifen Land und Windräder, bei deren Anblick, er dachte, sie seien schön zu fotografieren, sie sähen gut aus in der Landschaft mit Technik und dazu mit dieser, die man vertreten konnte als Grünenwähler, aber natürlich wollte man selbst niemals im Schatten eines Windrades leben. Wieviel sich schon verändert hatte, als er hier war mit den Kindern allein, damals, als er ein Witwer geworden war, mit Iris, die sich einbuddeln ließ und diesem ständig untröstlichen und ihm feindselig gesinnten Sohn. Später allein mit Iris. Dann allein mit seiner Frau, die sich in ein weißes, ihren Körper umflatterndes, Tuch gehüllt hatte. Und jetzt war er hier mit einem Interesse an der Entwicklung eines Vogelschutzgebietes, gemeinsam mit der Psychologin, seiner erwachsenen Tochter, zu ihrer Abschiedsveranstaltung. Ohne seine zweite Frau, zu der nur seine Enkelin einen freundlichen Kontakt hatte. Aber er hatte nichts zu beklagen, nein, er freute sich auf Iris, seine Tochter.

 

                                                                   *

 

Moos machte sich auf den Weg zum Hafen, um sich unter die Wartenden zu mischen. Vorbei an einer Mutter-Kind-Kurklinik der AOK, auch für Väter und Geschwisterkinder, eine Anlage unter Bäumen, mit Spielplatz, auf dem sich zwei kleine Jungen bewegten und eine junge Mutter mit ihrem Säugling auf einer Bank saß. Sie hatte sich einen Augenblick lang gefragt, ob sie auch hier eine Stelle hätte finden und ein Leben am Meer hätte beginnen können. Aber jetzt war der Fall gelöst. Es war ein Wunder und sie glaubte also jetzt, und war damit zufrieden, an Wunder.

Zwischen dem Erscheinen des Schiffes in der Ferne und dem plötzlichen Erscheinen am Landungssteg gab es eine Lücke in der Wahrnehmung.

Plötzlich waren sie da und verließen das Schiff, nachdem es vertäut, die Gangway angelegt und der Ausgang geöffnet war. Die Augen in den Körpern der Wartenden suchten den abzuholenden Menschen. Dann sah sie ihren Vater, Thomas Moos. Er war da, in der frischen Luft, heraus aus seiner Stadt. Er zog einen Koffer hinter sich her. Er sah gut aus mit seinem dreiviertel langen Mantel und seinem leichten Seidenschal. Er trug in


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 der Natur das gleiche wie in der Oper. Das letzte Mal, waren sie gemeinsam in Turandot gewesen. Ein interessanter Plot, eine Prinzessin, die sich verweigerte und die Aufgaben für Prinzen an Prinzen gab, die sie heiraten wollten. Moos hatte diese Rolle der Opernbegleitung angenommen, bevor dann eine neue Frau diese übernahm, so wie ihr Vater seine Frau, ihre Mutter, in die Oper begleitet hatte. Moos hatte gesehen, dass er weinte und gehört, dass er mürrisch sagte, alles sei gut.

Als sie nach der Abstellung des Koffers im Hotel, sich auf den Weg zum Strand machten und am Meer ankamen, hatte es sich weit zurückgezogen. Das war das Ankunftsritual. Sie gingen auf dem feuchten Sand, auf einer unendlich erscheinenden Fläche mit makellosen Wellen, dem Strandhafer, Muscheln, Grünzeug und dem Wattwurm, das unermüdliche Wesen, das ein Areal von winzigen Haufen hinterließ, und je weiter sie sich vom Ort entfernen, desto weniger menschliche Fußspuren waren zu finden. Als es glatt wurde und sie im Schlamm standen, kehrten sie um. Sie sahen zwei Männer auf dem schlammigen Grund. Einer der beiden war plötzlich bis zum Oberschenkel verschwunden und schaffte es mit Hilfe des anderen wieder heraus.

Sie suchten vermutlich Würmer zum Angeln. Später erzeugte die Sonne ein Glitzern, das jede Person, jede Pflanze umhüllte und Wasser und Sand bedeckte. Eine angenehme Blendung, eine alles verschleiernde Helligkeit. Moos erzählte ihrem Vater von einer Stelle in einem Buch bei Ayan Hirsi Ali, die er eher nicht kannte und von der er dann doch schon gehört oder sie im Fernsehen gesehen hatte. Sie beschrieb ihre Großmutter, wie sie sich den Koran auf den Kopf legt. Sie konnte nicht lesen. Vielleicht könne alles ganz einfach sein. Es gehe um das Gute. Und das Böse sei nach Baudrillard eine psychische Verwerfung, nichts anderes als Regression. Man könne sich von den Dingen ermahnen lassen, gut zu sein.

Thomas Moos fand das Thema typisch für seine Tochter. Und er dachte, dass er das alles nicht ganz ernst nähme und überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass ihre Arbeit ihn glücklich mache. Das Leben machte in bestimmten Augenblicken einen sehr brüchigen Eindruck. Aber dann ging der Augenblick wieder vorbei. Sie waren Personen im Sand mit nackten Füßen und aufgekrempelten Hosen und Fotokameras. Sie das Handy. Er den Apparat.

 

Wir müssen einkaufen. Ich koche uns etwas, wir gehen zu mir, sagte sie.

Champions League, sagte er.

 

Es war gerade noch hell und sie fanden das Schild, das die Richtung zur Hauptstraße, der genügsamen Main Road und Shopping Area wies. Sie fanden den EDEKA-Laden. Iris legte Schinken, Käse, Knäckebrot, Äpfel, Paprika, Wasser und so weiter, in ihren Einkaufswagen, soweit es ging Bioprodukte, er wählte die Flasche Wein (Rot). Er bezahlte nach einer kleinen Weile des Anstehens und der Kassiererin zuhörend. Sie packte alles in ihren Rucksack. Den Weg zur Ferienanlage erkannte Iris in der Dämmerung, während sie ihren Vater, der ein kleines Stück vor ihr lief, da er es eilig hatte wegen des Fußballspiels, von der Seite betrachtete. Sie musste sich einfach nur damit abfinden, dass er alt wurde und alt war. Das war doch nicht so schwer zu verstehen.


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Er sah gut aus. Er führte sein eigenes Leben und belästigte sie nicht mit seiner Ehefrau.

In ihrem Esszimmer mit Küchenzeile, stand ein Fernsehgerät, das Moos einschaltete. Bayern gegen Real Madrid, in der 21. Minute, es war noch kein Tor gefallen. Iris bereitete, nachdem ihr Vater im Sessel am Tisch vor dem Fernseher Platz genommen hatte, das Essen, während sie ebenfalls das Spiel im Auge behielt, Gnocchi mit Käsesoße und Rucola. Er öffnete den Wein und als er das muffige der Gläser rechtzeitig vor dem Eingießen bemerkt hatte, spülte er die Gläser aus und suchte ein neutrales geruchloses Handtuch. Schließlich nahm er Papiertaschentücher. Iris lachte und er lachte. Dann goss er den Wein ein.

Der Kommentator behauptete jetzt, ein Spieler gehe in den anderen hinein. Ihr gefielen die Kommentare meistens nicht. Dennoch war es schwer darauf zu verzichten. Und sie verzichteten beide nicht. Dafür nannte Thomas Moos den Kommentator einen Vollidioten. Die Gläser aus der Vitrine nahm Iris sich vor, an der Luft stehen zu lassen, die hier außerordentlich gut war, so hatte es ihr iPhone angezeigt, im Gegensatz zu Köln, Berlin, Frankfurt und München. Es stand jetzt 1:0 für Bayern. Der Trainer kaute Kaugummi. Der Kommentator tat so, als wäre das Tor der anderen Mannschaft ganz außergewöhnlich und überhaupt nicht zu erwarten gewesen. Es war aber jetzt gefallen, in der zweiten Halbzeit, nachdem die Nachrichtensendung beendet war, deren Hauptinformation der vermeintliche Anschlag auf eine Fußballmannschaft war, mit einer Sprache, als müsse jedes Wort einzeln versichert werden. Es stand 1:1 nach dem Tor von Ronaldo und dann gab es eine rote Karte für Bayern. Der Anschlag, so würde sich später herausstellen, hatte mit dem Versuch der Manipulation des Kurses einer Aktie zu tun und war nicht von einem Araber, Asylbewerber oder Terroristen verübt worden.

 

Voila!

 

Das Spiel befand sich in der 71. Minute. Es gab ein zweites Tor von Ronaldo. Und die Spieler der einen Mannschaft waren nur noch zu zehnt. Es hieß, es gäbe viele kleine Fehlentscheidungen im bayrischen Spiel. Sie tranken Wein. Rouge. Später, in einem Interview sagte der Grüne Habeck, dass das Konzept Volkspartei überholt sei. Iris die Tochter und Thomas der Vater befanden sich in einem einfachen Interieur von Stuhl und Tisch und Fernsehgerät. Sie aßen von den Tellern mit Messer Gabel und Löffel und tranken aus den Gläsern an einem stillen, friedlichen Ort. Iris fragte sich nur für einen Augenblick, ob das so seine Richtigkeit hatte. Sie tranken ungeniert Wein, aber auch reichlich Wasser. Iris merkte, dass sie anfing zu plappern. Der Fernseher war jetzt ausgeschaltet.

 

Unsere besonderen Befürchtungen sind der Globalisierung geschuldet. Wir merken, dass man nicht global handeln kann. Wir haben die Übersicht darüber eingebüßt was alles ineinandergreift und es ist leider nicht damit getan, dass wir es komplex und strukturell nennen. Man kann eben nur einen Ausschnitt bearbeiten.

 

Komplexitätsreduktion, sagte Thomas Moos.

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Sie habe kürzlich einen Bericht gesehen, auf Arte (auf Arte sehe immer alles gut aus) über die Neuanpflanzung eines Mangrovenwaldes im Senegal. Die Mangrove sei eine Pflanze, die Salzwasser vertrüge, beziehungsweise toleriere und den Boden stabilisieren würde. Die Krabbenzucht in Mangrovengewässern, vergifte die Mangroven.

Schon seit langem hatte Thomas Moos nicht mehr das Gefühl der Unschuld, ob er im Bioladen kaufte oder nicht. Da gäbe es also auch Krabben.

Ein Dessert? Sie habe noch das Tiramisu im Kühlschrank.

Sie würde also in die Staaten gehen. An eine Schule für autistische Kinder. Ihn interessierte, ob sie dort alleine sei. Und Iris hätte so tun können als würde sie diese Frage nicht verstehen, denn wie konnte man mit einer Arbeit und dazu noch einer so interessanten und mit Sicherheit erfüllenden, die ihr von einem Freund vermittelt worden war, allein sein. Sie wäre bestenfalls genauso allein wie er, hätte sie etwas sarkastisch anführen können. Aber in gewisser Weise hatte er den wunden Punkt getroffen oder zumindest gestreift. Also sprach sie von Berufskollegen. Und er hatte sofort gespürt, dass die seltsame Beschreibung dieses einen Kollegen, der sie angeheuert hatte, erneut eine Unsicherheitssituation beinhaltete. Und während er dann den Gedanken der Komplexität noch etwas ausführte, fragte Iris sich und dann ihn, warum sie eigentlich kein Instrument gelernt hätten. 

 

Du warst doch sehr klein, also zu klein. Und dein Bruder wollte dann nicht mehr oder konnte nicht. Und ich wollte diesen bürgerlichen Müll mit Geigen- und Klavierunterricht nicht. Bei deiner Mutter war es ja der Beruf.

 

Nur wenn sie das eingefordert hätten, wäre ihren Bedürfnissen seinerseits entsprochen worden. Und dabei sah Iris ein seltsames Grinsen in seinem Gesicht, das irgendwie verquält anzeigte, dass diese antibürgerlichen Einstellungen inzwischen vollkommen unglaubwürdig waren und eigentlich ausrangiert werden sollten, aber dann doch beim Gerümpel mit alten Farbdosen und angesägten Brettern belassen wurden.

Als sie an Martin dachte schien es ihr wieder, besonders im Angesicht ihres Vaters, dass ein bestimmtes Zeichen ihres Lebens, niemals verschwinden und sich immer in verschiedenen Kostümen wiederholen würde. Trotz schillernder Staatenzukunft. Sie dachte an das kleine Foto von Martin, das sie in einem Buch von Bernward Vesper verwahrte. An dieser Stelle:

 

…, wenn wir, wie ich eben, beim Auf und Ab gehen eine,

 Spinne, die an der Wand auftaucht, mit Zigarettenrauch

beblasen, versuchen wir, sie zu vergasen. Bernward Vesper

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Nine Eleven hätte etwas verändert. Und alles käme weiterhin aus den Staaten. Der außengeleitete Mensch, den David Riesman in den fünfziger Jahren entdeckt hatte, und der einem Amerikaner zu ähneln schien, sei inzwischen von allen verinnerlicht, jedoch bei anhaltendem Antiamerikanismus. Der Amerikaner, allgegenwärtig und pausenlos fröhlich konsumierend.

Sie waren in die Phase des Abschieds eingetreten. Man konnte wohl nicht so tun, als sei New York um die Ecke. Sie schwieg und musste aufpassen, dass sie nicht zu viel trank. Sie nahm das Glas Wasser.

Er habe auch eine Psychogruppe besucht nach dem Tod seiner Frau, ihrer un-erinnerten Mutter. Dann fragte er doch noch nach Martin und der Praxis, auf die sie so stolz gewesen war. Sie sagte:

 

Alles ist gut und in Ordnung.

 

Zwischen ihnen gab es ein geflügeltes Wort in Form einer Frage, das hieß:

 

Sicher?

 

Und diese Frage war nicht dazu da, beantwortet zu werden. Nachdem sie den Wein und das Wasser getrunken hatten, wollte Moos ihren Vater in sein Hotelzimmer bringen, was er ablehnte. Er fände sich schon zurecht. Sie hätte vergessen, dass er nicht das erste Mal hier sei und er kenne sich aus. Sie umarmten einander. Sie brachte ihn die Treppe hinunter und ging ins Bett. Es war ein Ehebett, von dem sie nur die eine Hälfte benutzte. Im Dunkeln, das nicht ganz dunkel war, erschien auf der Wand vor ihrem Bett der Schatten eines sich im Wind bewegenden Nadelbaums und als sie am Morgen langsam erwachte, spiegelte sich im Fenster hinter ihr, das sich über der Schlafstätte befand, die am Horizont über dem Meer aufgehende rotglühende Sonne, die sie an ihrem ersten Morgen für eine rote Ampel gehalten hatte. Für diesen wunderbaren Ausblick war die Unterkunft auch etwas teurer als beispielsweise Unterkünfte im Hafenort. Durch die zum Wohnzimmer geöffnete Tür, sah sie vom Bett aus also das Meer und auf der Wiese vor dem Haus, das grasende braune Pferd, ein Kaninchen und einen kleinen schwarzweißen Vogel, der nervös das Reetdach hinauflief und dann auf den Schornstein flatterte. Sie fragte sich, warum sie den Namen der Vögel nicht wusste. Dann war der Sonnenball aus dem Fenster verschwunden. Ein Apfelschimmel war an der Linie von Nadelbäumen aufgetaucht und schien daran zu schnuppern, was genau er tat, war nicht zu erkennen. Möwen erhoben sich und flogen über das gekräuselte Meer.

Nachdem sie in einem Restaurant gefrühstückt hatten, alles viel zu viel war, machten sie sich erneut auf den Weg über die Insel. Am Nachmittag kehrte das Meer zurück, es glitzerte und der Weg im Sand an die Spitze der Insel war schmal geworden, links die Absperrung, welche die Dünen schützte, rechts das Wasser, das nah an die Absperrung herangekommen war. Hochwasser und Niedrigwasser. Man merkte nicht, wann das Wasser kam oder ging. Es waren Erscheinungen von Anwesenheit und Abwesenheit. Jetzt war das Wasser anwesend. An der Spitze der Insel die Kolonie ruhender Möwen. Die

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Schnäbel aufs Meer gerichtet, schnatternd, hin und wieder erhob sich eine Gruppe in die Luft. Auf der anderen Seite der Insel sah das Meer wie ein Spiegel aus, ungewöhnlich glatt und dunkel. Und Thomas Moos bat seine Tochter hier von ihr ein Foto machen zu dürfen. Es war immer noch warm. Und sie bestärkten einander darin, dass dieses Wetter, diese Hitze im Sommer als wäre man in Neapel, und jetzt dieser zögernd eintreffende kurze Herbst und der wahrscheinlich darauffolgende unentschiedene Winter, die Zeichen einer Klimakatastrophe seien. Ein Zitat von Bruno Latour, das sie auf ihrem iPhone gespeichert hatte, und das sie ihrem Vater zeigte, lautete:

 

"Die Organismen passen sich ihrer Umgebung nicht an, sie stellen sie her.“ Und die Yanomami in eben diesem Buch zitiert: „Die Weißen fürchten sich nicht wie wir vor dem herabstürzenden Himmel erschlagen zu werden. Doch eines Tages werden sie sich, genau wie wir davor fürchten."

 

Thomas Moos meinte, ihren Gedanken folgend, Iris hätte sich so etwas wie eine delikatessförmige geistige Speisekammer hergestellt, wie er wahrscheinlich auch, in der sie beide unermüdlich einen geistigen Vorrat ansammelten. Aber es helfe nur gelegentlich gegen das Ressentiment und gegen die Anfälle von Misanthropie. Ein schwuler Freund, sagte Iris, er sei damals an Aids gestorben und im weißen, mit einer Federboa bedeckten Sarg zu Grabe getragen worden, nachdem sie alle mit Sekt auf sein Leben angestoßen hatten, habe ihr den unvergessenen Satz eingeprägt:

 

Wenn es um den Kerl geht, hilft auch kein Abitur,

 

Und Thomas Moos fand diesen Satz vollkommen zutreffend. Er konnte sich an diese Zeit gut erinnern, denn als er seine jetzige Frau kennengelernt hatte, waren sie zu dem Schluss gekommen, sich testen zu lassen, mit dem gleichzeitigen Entschluss zusammen zu bleiben und der Test war in beiden Fällen negativ ausgefallen. Iris, es war ihre Studienzeit, hatte damals viele Tode erlebt. Und doch waren sie alle in einer schillernden Welt aus Liebe, Leidenschaft, Politik, Todesmutigkeit und Autonomie vorhanden. Im Krankenhaus erlaubten die Ärzte und Pfleger das Rauchen mit den Kranken in den Zimmern. Die Junkies die durch den Gebrauch verunreinigter Spritzen mit dem Virus infiziert waren, erzählten sich gegenseitig und ihnen von ihren Abenteuern der Beschaffungskriminalität. Das Leben sei intensiv gewesen im Angesicht des Todes.

Er fragte, ob sie auch Abschied von ihren Patienten genommen hätte oder Klienten, wie man das wohl sage, während sie jetzt die Anhöhe mit dem Leuchtturm überquerten.

Iris hatte, als klar war, dass sie die Stelle in NY antreten konnte, Astrid Nessun gebeten, anstatt empfohlen, einmal zu Martin zu gehen, den sie ja kenne. Sie wusste nicht, ob sie diesem Gebot nachkommen würde. Sie kannte diesen Blick aus dem Fenster und das anschließende Lächeln, das manchmal stark und manchmal eher ein Weinen war. Diesmal


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schien es ihr spöttisch gewesen zu sein. Aber es hatte funktioniert, ihre wichtigste Patientin war bei Martin angekommen. Sie würde versuchen, den Kontakt zu ihr zu halten. Das war nicht professionell, aber das schien jetzt egal. Natürlich habe sie sich von allen verabschiedet.

 

                                                                  *

 

Ein paar Tage später am Morgen würde Iris am Hafen stehend der Fähre hinterherschauen, auf der ihr Vater nach Hause fuhr. Ein weißes Rechteck, das am Horizont verschwand. Der tatsächliche Abschied von der ganzen Familie fand ein paar Wochen später statt, am Flughafen, wo diese Familie, dem in den Wolken verschwindenden Flugzeug hinterherschauen würde. Schon in diesem Flugzeug, das nach Frankfurt am Main flog, würde sie das Gefühl, vollkommen auf sich zurückgeworfen zu sein, verspüren. Es musste das Gefühl sein, das man in einer Raumkapsel hatte, das Gefühl eines kosmischen Abstands, so als würde man endlich das Muster des Chaos überblicken. Dann würde sie aufatmend in Frankfurt in das Flugzeug, Flug H 404 nach New York J.F.K. steigen. Sie flog viele Stunden zurück ins Licht und dort würde Noah sie erwarten.

 

 

 

7

NY November

 

Als in den Vereinigten Staaten, nach dem Ende der Amtszeit von Barack Obama, ein neuer Präsident gewählt wurde, lag Thomas Moos, denn es war schon Nacht in Germany, im Bett neben seiner namenlosen Frau, mit einem ebenso unruhigen Schlaf, wie er ihn von sich selbst schon gewohnt war. Er hatte das Radio an seinem Ohr und wollte bis zu den Wahlergebnissen wenigstens in einem Dämmerzustand verharren. Plötzlich, als sich immer eindeutiger abzeichnete, dass Hillary Clinton die Wahl verlieren würde und dieses unsägliche Monster, dieser nicht zu fassende Popanz, die Macht und das Amt des Präsidenten übernehmen würde, hatte er diesen kurzen Augenblick einer hellen Wachheit und schaltete resigniert das Radio aus. Seine neben ihm liegende Partnerin drehte sich um und ihm den Rücken zu. Ebenso unvermeidlich wie Thomas Moos dachten Johansen, Martin und Yvonne, Iris‘ Bruder, seine Frau und seine Tochter sowie die Klientin Astrid Nessun, in dieser Nacht, spätestens am frühen Morgen, wenn die Medien hastig befragt wurden, an die in New York weilende, lebende und arbeitende Iris Moos, deren Thermometer an jenem hiesigen Abend 12 Grad Celsius angezeigt hatte weswegen sie ihren Wintermantel angezogen hatte und zu ihrer abendlichen after election Verabredung gefahren war, nicht weit von der Rugby Road entfernt, um leider nichts zu feiern, sondern, wie es aussah, zu trauern. 

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Aber, so reagierte sie am nächsten Tag auf all die Anfragen aus ihrem Ursprungsland NRW sowie der Hauptstadt Berlin, hatte das Center, in dem sie arbeitete und sie alle, nichts mit dem Popanz zu tun. Sie funktionierten weiter. Sie alle taten eine wichtige Arbeit, da konnte der Popanz nicht eingreifen. Und Moos fühlte sich umso mehr von der autistischen Welt angezogen, je absurdere Weltentwicklungen zutage traten, als handele es sich um eine alternative, vernünftigere Lebensweise. Als ein Schüler ihr sagte, er wolle eine Frage, die sie gestellt hatte, erst morgen beantworten, empfand sie Zufriedenheit. Es war, als hätte das autistische Kind die Welt durchschaut und hielt sich fern von all den Gesetzen und Grammatiken von all der Hektik und Emotionalität. Die Welt war nicht anschaulich und chaotisch, sie war überschaubar und von gleichförmiger Stille. Alles war, was es war. Und alles war in der Ordnung. Das eine war nicht wichtiger als das andere. Die Hektischen und die Geblendeten waren schwer zu verstehen. Aber auch das war egal.

Ihrem Bruder zählte Moos ihre Freunde auf: Noah, John, Timothy, und ihre Freundinnen Hannah, Mona, Fatou, Esther und Kathleen. Alle da, er konnte sie nachzählen. Sie war nicht allein, niemals. Sie ging mit ihnen Essen und im Central Park Tanzen, nahe der Stelle, an der John Lennon ermordet worden war und im Sommer waren sie am Strand. Und natürlich fanden sie alle, und das teilte sie all denen, die sich aus ihrer Vergangenheit, aus Germany, gemeldet hatten, in welchem Medium auch immer, mit, dass der Gewählte natürlich ein A… war, ein großes sogar, so groß, dass der ihnen allen bekannte Autor Paul Auster sich weigere, den Namen auch nur in den Mund zu nehmen.

Aber viel mehr, als gegen ihn zu stimmen hätten sie im Moment leider nicht tun können, antwortete sie auf Johansens E-Mail, die sich scheinbar gefragt hatte, wo sie da hineingeraten sei. Und sie solle diese dummen Fragen nicht stellen, sie sollten demnächst skypen oder sie könne auch, da sie sich nun einmal an sie erinnert habe, vorbeikommen.

 

Im Ernst.

 


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© Doris Paschiller, 2024

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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